155. Die schreckliche Nacht zu Breslau.

[170] (S. Selt a.a.O. S. 50 etc.)


Vor langer langer Zeit saß zu Breslau in einer Bude unter den sogenannten Leinwandmeistern eine gar böse Frau, welche nie einen Gottesdienst besuchte und von allen ihren Zunftgenossen wegen ihres lasterhaften Wandels und ob ihres zänkischen und betrügerischen Wesens willen gemieden ward. Sie hatte in ihrer Jugend durch ihre Schönheit und Heuchelei einen reichen braven Mann zu bethören gewußt, allein bald nach ihrer Verheirathung die Maske abgeworfen und sich in ihrer wahren Gestalt gezeigt. Denn sie lebte heimlich mit einem rohen Kriegsknecht und verpraßte mit ihm das Vermögen ihres guten Mannes. Schließlich kam derselbe aber doch hinter ihre Schliche, aber da alle seine Vorstellungen und Bitten nichts halfen, so nahm er sich selbst durch Gift das Leben und nun hatte sie freies Spiel. Allein diese Freiheit kam ihr auch nicht lange zu Gute, denn ihr Buhler bekam sie endlich auch satt und eines schönen Morgens war er[170] sammt dem besten Theil ihrer Kostbarkeiten verschwunden. Zwar tobte und wüthete sie fürchterlich, allein das half Alles nichts, er hatte sich wohl vorgesehen und war längst über alle Berge, so daß sie nur das leere Nachsehen hatte.

Von diesem Augenblicke an war aber die Frau wie umgewandelt, sie haßte alle Männer und an die Stelle rasender Verschwendung trat ebenso große Habsucht und Geiz. Sie saß beständig in ihrer Bude, plagte ihre Dienstleute, betrog alle Leute durch falsches Maaß und trieb den schändlichsten Wucher. So brachte sie auf ebenso abscheuliche Art und Weise ihr Hauswesen wieder in die Höhe, wie sie es früher heruntergebracht hatte, aber auch ihr Stündlein kam, und es ertönte an einem trüben Abend das Sterbeglöcklein hoch vom Thurme herab für die allgemein verhaßte Frau.

Was man schon noch bei ihrem Leben vermuthet und gesagt, geschah; die böse Frau hatte keine Ruhe im Grabe. Mit Grausen war vom Wächter auf dem Elisabethenthurme bemerkt worden, daß allnächtlich beim Beginn der Geisterstunde sich die Frau aus dem Grabe erhob, das Sterbekleid quer über den Hügel legte und nun rüstigen Schrittes nach der Bude eilte, und dann wurden von ihr eine ganze Stunde lang Stückchen Leinwand ohne Ende gemessen und gemessen, und immer gemessen, bis ihr der Schweiß in dichten Tropfen auf der Stirne gestanden und die Augen geblutet hatten.

In der einen Nacht als der Wächter wieder gesehen, wie sich das Gespenst aus dem Grabe erhoben und nachdem es das Sterbekleid abgelegt, nach der Bude zu dem nächtlichen Geschäft geeilt war, stieg er von dem Thurme herab, ging zu dem Grabe, nahm das Sterbegewand hinweg und eilte zurück zu dem Thurme. Als er das Pförtlein wieder zumachen will, um die schmale Wendeltreppe hinaufzusteigen, da fällt ihm plötzlich etwas ein und vorsichtig bezeichnet er das Pförtlein dreimal mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes. Darauf schließt er die Thüre und steigt, das kalte Sterbekleid im Arme, schnell die gewundene Treppe hinauf zu seiner hohen Wohnung. Dort wirft er es an einen kleinen hölzernen Hausaltar und tritt an das Fenster, von wo er den Kirchhof und jenes Grab sehen kann.

Schon war es im letzten Viertel der ersten Stunde nach Mitternacht, da kehrt das Gespenst zu seiner Behausung zurück. Als es das verlassene Sterbekleid vermißt, da richtet sich sogleich sein Blick nach dem Fensterlein, aus dem der vorwitzige Wächter herniederschaut und ob ihrer grimmigen Geberde zurückbebt. Doch größer wird sein Schrecken, als er jetzt das Gespenst den Weg mit hastigen Schritten zum Thurme nehmen sieht. Je mehr sich das Gespenst nähert, desto mehr steigt die Furcht des Wächters. Seine Hände falten sich zum Gebet, welches seine Lippen bewußtlos stottern. Jetzt ist es am Pförtlein, da gewahrt es das heilige Zeichen und bebt davor zurück. Der Wächter hat sich ängstlich mehr zum Fenster hinausgebeugt und als er schaut, welche Wirkung das Zeichen des Kreuzes thut, da will er zurück in sein Gemach, um Gott für seine Rettung zu danken, doch als er noch einen Blick hinunterwirft um zu sehen, ob das Gespenst nun seinen Rückzug angetreten hat, da sieht er mit Schaudern, wie dasselbe an der Außenseite des Mauerwerks den Thurm hinanzuklimmen sucht. Da erfaßt ihn Todesangst, seine Glieder sind wie erstarrt und nicht kann er den Platz am Fenster verlassen, sondern er steht wie gebannt und muß dem Gespenste[171] zusehen, wie es immer näher heraufkommt. Schon kann er das von Wuth verzerrte Gesicht desselben sehen, welches der Mond geisterbleich beleuchtet, seine Haare sträuben sich hoch empor, jetzt ist das Gespenst bis an die Gallerie, schon will es sich hinüberschwingen, er sinkt mit einem Schrei des Entsetzens zu Boden, da schlägt es Eins und im Nu lassen die dürren Knochenhände das Geländer los, die Beine lassen die Säulen, welche sie umklammert hatten, fahren, und krachend stürzt das Gerippe hinab auf den harten Boden des Kirchhofes. Am andern Morgen fand man dort den furchtbar verunstalteten und kaum noch zu erkennenden Leichnam der bösen Frau; das Volk aber, zu welchem mittlerweile die Kunde von dem furchtbaren Ereigniß in der Nacht, von welchem der Wächter noch, in Folge der bestandenen Angst und Todesgefahr schwer erkrankt darniederlag, gedrungen war, litt nicht, daß das Gerippe wieder in geweihte Erde kam. Der Henker mußte kommen; mit einem Grabscheit ward dem Leichname der Kopf abgestochen und dieser dann auf einer Kuhhaut zum Galgen geschleppt und dort verscharrt. Der Wächter aber überlebte die gräßliche Nacht nicht lange, das Gespenst ward aber auch nicht wieder gesehen. Von einem Künstler ward aber die furchtbare Begebenheit in Metall gravirt und dieses Bild stand noch bis zum Anfange dieses Jahrhunderts an einer der Thüren der Elisabethkirche, ganz an der Seite versteckt in der Mauer.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 170-172.
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