156. Der Hahnenstein oder die Hahnenkrähe vor dem Nicolaithore zu Breslau.

[172] (S. Schäfer in der Illustr. Ztg. 1858 Bd. I. S. 257. Selt S. 5 etc. [mit Abbild.] und etwas verschieden bei Gödsche S. 37 etc.)


Eine sehr alte, anscheinend dem Anfange des 13. Jahrhdts. angehörige Weichbildssäule oder sogenannte Martersäule vor dem St. Nicolaithore auf dem Wege nach Lissa führt im Munde des Volkes seit undenklicher Zeit den Namen der Hahnkrähe, welche Benennung unbedingt nur dem Hahne, der mit erhobenen Flügeln an der westlichen Seite der Krönung der Säule oberhalb des Kapitals derselben als Relief gehauen, obschon bereits sehr verwittert zu sehen ist, seine Entstehung verdanken mag. Dieser Hahn soll sicherlich den Hahn vorstellen, der nach der dreimaligen Versündigung des Petrus an seinem Herrn und Meister seinen Mahnungsruf in die Ohren des verzagten Jüngers Jesu nach der Voraussagung desselben erschallen ließ. Auf der nördlichen Seite ist die Kreuzigung, auf der Morgenseite hingegen ist nur noch eine ganz schwache Spur der Dreieinigkeitsdarstellung, während in der Krönungsnische nach Mittag zu ein flüchtiger Reiter angebracht ist.

Die Volkssage berichtet, daß vor vielen Jahrhunderten ein ehrsamer und tapferer Ritter aus dem Geschlechte derer von Wiesenburg (nach Andern hieß er Hedlow von Wildburg) gelebt hat, mit Namen Henzko (d.i. die slavische Form für »Heinze« oder den provinziell verstümmelten Namen »Heinrich«). Dieser Henzko hatte eine eben so schöne als tugendhafte Gemahlin, die er über Alles liebte und die sein ganzes Lebensglück ausmachte. Als daher Herzog Heinrich (IV.?) das Kreuz nahm und nach Palästina zog, da mußte der Ritter demselben die Lehnsfolge leisten. Daß das Herausreißen[172] aus seinem ehelichen Himmel dem Ritter nicht eben gleichgültig sein konnte, verstand sich von selbst. Er bot Alles auf, sich dieser Pflicht zu entziehen; allein vergeblich, er mußte sich dem Zuge nach dem Morgenlande anschließen.

Nach einer andern Erzählung mußte jedoch Henzko allein ziehen, um einen Auftrag des Herzogs dorthin auszurichten. Zu dieser so wenig erfreulichen Mission soll ihm aber ein mächtiger Günstling des Herzogs, Namens Leutko, verholfen haben, der schon seit längerer Zeit ein Auge auf Henzko's schöne Gattin gehabt hatte. Leutko wollte sonach die Henzko aufgetragene Botschaft als eine Art Uriasbrief benutzen. Im Vorgefühle einer ihm gelegten Falle traf Henzko mit seiner Gemahlin, der er beim Abschied noch besondere Vorsicht anempfahl und ihr ewige Treue schwur, das Uebereinkommen, daß sie nur dann von seinem Tode sich überzeugt halten solle, wenn ihr Jemand das silberne Crucifix, das er um seinen Hals zu tragen pflegte, überbringen würde, worauf sie dann freie Hand haben sollte. Noch nicht am Ziele seiner Reise angelangt, verfiel Henzko in Folge ungewohnter Strapazen in eine Krankheit, von der er seine Gemahlin zu benachrichtigen nicht verfehlte. Leutko glaubte schon dieses Mißgeschick Henzko's zu seinen Gunsten benutzen zu können und der Gemahlin desselben vom gewissen Tode ihres Gemahls Nachricht ertheilen zu müssen, wobei er ihr zugleich seine Wünsche offenbarte; allein diese Kühnheit wurde von ihr mit Würde in ihre Schranken zurückgewiesen. Henzko war völlig genesen, hatte seine Botschaft erfüllt und war bereits mit leichterem Herzen auf dem Wege zur Heimath, als plötzlich aus des Waldes Dickicht eine Räuberhorde hervorbrach, ihn beraubte und ihn selbst als Sklaven in eine nahe Hafenstadt verkaufte. Ein Diener Henzko's war indessen den Räubern entkommen und gab nach Hause zurückgekehrt vor, um nicht als treulos angesehen zu werden, daß sein Ritter bei diesem Raubanfall im Walde erschlagen worden sei. Leutko suchte bei dieser falschen Kunde von Neuem zu seinen Gunsten bei der vermeintlichen Wittwe Henzko's zu wirken. Doch immer noch vergeblich war das Bemühen, ihr den Glauben an das Nochleben ihres geliebten Gatten zu nehmen.

Drei Jahre hatte jetzt Henzko das Sklavenjoch getragen, als es ihm in einer Nacht träumte, daß seine Gemahlin an der Hand Leutko's zum Traualtar schritt, ja daß er entsetzt dem Trauungszuge nachstarren mußte, ohne etwas dagegen thun zu können, und in Angstschweiß gebadet erwachte er noch vor Sonnenaufgang auf seinem Lager. Bebend vor Aufregung rief er aus: »O könnte ich doch noch vor Sonnenaufgang vor den Thoren Breslaus sein, so wollte ich gern das Heil meiner Seele dafür hingeben!« Da plötzlich krähete ein Hahn, neben seiner Bettstatt regte sich etwas und Herr Urian stand vor ihm: »Wohlan«, rief dieser ihm zu, »ich bringe Dich auf einem schwarzen Hahne reitend dort noch vor des Morgens Anbruch zur Stelle, doch dann ist der Pact abgeschlossen!« Bei diesen Worten zeigte der Böse auf einen gewaltigen Hahn, der die Flügel so lustig schlug, als wolle er schnellstens zum Ritte bestiegen sein. Doch noch kämpften in dem Gewissen Henzko's Christenglaube und Liebe; allein bald trug letztere den Sieg davon. Der Pact ward zwischen dem verliebten, aber dabei doch schlauen Ritter und dem Herrn Urian, der aber hier ein dummer Teufel war, vollzogen und Henzko schwang sich von seinem Lager behend auf den[173] reiselustigen Hahn, eingedenk des Crucifixes, das er noch an seinem Halse trug und das ihm als Schutzmittel gegen des Teufels Macht dienen sollte. Im Nu ging es wie auf Sturmesfittigen von dannen; außerdem hatte aber der Ritter bei sich erwogen, daß sie doch möglicher Weise nicht vor Tagesanbruch dort ankommen würden ober daß der Teufel schon dadurch hintergangen sein würde, daß er, obschon er auf dem Hahne alsbald entschlummert sein werde, doch sofort erwachen müßte, sobald der Hahn nach aller Hähne Gebrauch vor Tagesanbruch krähen würde, und mit dem Erwachen werde dann auch der Vertrag mit dem Teufel gelöst sein. So geschah es auch; der Hahn krähte; sie befanden sich gerade über Breslau, als eben die ersten Strahlen der Sonne die Stadt beschienen; das Crucifix aber schützte den Ritter vor der Gewalt des Satans, der dies allerdings nicht geahnt hatte. Der Hahn, vor dem Nicolaithore niedergegangen, verwandelte sich in ein schönes gezäumtes schwarzes Roß, auf dem Henzko in Breslau einritt. Seine Gemahlin, die ihn allerdings wirklich todt geglaubt hatte, aber ihm gleichwohl treu geblieben war, war hoch erfreut über seine Rückkehr, und seine wunderbare Rettung ward weit und breit verkündet. Zum Andenken aber ließ er jene Weichbildsäule setzen, die noch heute als Wahrzeichen der Stadt gilt, aber von der ganzen Sage nichts zum Beweise an sich trägt als die Bilder des Hahns und des Ritters.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 172-174.
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