d) Die weiße Frau.

[234] Auf der Burg Kynsberg hat sich bis auf die neuere Zeit herab eine weiße Frau sehen lassen. Einstmals war hier ein großes Fest; die Männer zechten im Rittersaale, die Damen aber hatten sich einstweilen zum Lustwandeln in den Garten begeben. Nun war aber einer der Ritter, ein gewisser Bernhard von Haugwitz, der Liebhaber einer der mit anwesenden Jungfrauen, einer gewissen Adelheid von Schafgotsch. Es gefiel ihm nach der Entfernung seiner Angebeteten nicht länger unter den wilden Zechern. Er verließ also das Gelage und begab sich in den alten Rittersaal, aus dessen Fenstern er in den Burghof sehen konnte. Wie er nun so träumerisch hinabschaute, sah er auf einmal aus dem Burgthore ein weiß gekleidetes Fräulein langsam nach dem Windebrunnen, der sich daselbst befindet, schreiten. Er glaubte es sei seine Geliebte und rief sie laut bei ihrem Namen; sie drehte sich schnell um, winkte ihm mit der Hand, trat dann an den Rand des Brunnens und stürzte sich kopfüber hinab. Mit einem Schrei des Entsetzens taumelte der Ritter vom Fenster hinweg, eilte mit lautem Hülferuf in den Hof hinab und erzählte den eilig Hinzukommenden, was er gesehen. Während nun aber Alle rathlos dastanden, traten auf einmal sämmtliche Frauen aus dem Schloßgarten in den Hof, Adelheid mitten unter ihnen,[234] und nun wußte Jeder, wer die weiße Gestalt gewesen war; es war die weiße Frau gewesen. Späterhin hat man sie noch oft gesehen; sie kam aus dem Schlosse herunter, ging unter der Kapelle durch und dann rechts über die Treppe hinunter auf die Pferdeställe zu und verschwand beim alten Stalle.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 234-235.
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