b) Der Sprung vom Kynast.

[244] Franz von Chila, ein Page Herzogs Ludwig II. von Liegnitz, hatte eine heimliche Liebe gefaßt zu seiner Gebieterin, der schönen Elisabeth, Tochter des Burggrafen von Zollern. Nun begab es sich aber, daß einst der Herzog mit seiner Gemahlin einen Besuch auf dem Kynast machte und natürlich der junge Edelknecht mit von der Parthie war. Der Burgherr hatte zur Feier des hohen Besuches Festlichkeiten im Burghofe veranstaltet, Armbrustschießen, Wettlaufen und ein Fußturnier. Der Herzog aber, der auch etwas[244] zur Feier des Tages beitragen wollte, erhob sich von der Tribüne, auf welcher er saß, ergriff einen goldenen Becher, den er mitgebracht hatte, und sprach: »Diesen Becher lege man auf die höchste Zinne des Schloßthurmes, wer zur Brüstung desselben sich hinaufschwingt, und ihn dort auf das Wohl seiner Schönen leert, der soll ihn zum Lohn seines Muthes erhalten!« Zwar versuchten Mehrere das kühne Wagstück, aber Keinem gelang es das Ziel zu erreichen, da erbat sich der Page von seiner Gebieterin die Erlaubniß, auch einen Versuch zum Erringen des Preises zu machen, und schwang sich, nachdem ihm solche geworden war, im kecken Klettern glücklich hinauf bis auf die höchste Zinne, da ergriff er den Becher und rief mit lauter Stimme: »Frei darf ich es jetzt vor Allen sagen, was ich bisher stumm in meiner Brust verschließen mußte, dieser Becher, Frau Herzogin, gilt Euch. Meine Liebe und Treue will ich mit dem Tode besiegeln!« Damit sprang er von dem Thurme muthig in die schauerliche Tiefe, und endete hier sein junges Leben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 244-245.
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