1347. Das Osethal.

[1088] (Nach Smidt Bd. I. S. 160 etc.)


Auf Sylt befindet sich ein Dorf, welches Wenningstede heißt. Dort lebte einst ein wohlhabender Landmann, Namens Wilken Hahn, der eine fleißige und schöne Frau besaß, Frau Ose genannt. Es war seine Gewohnheit, weil er ziemlich der reichste Mann im ganzen Dorfe war, zur jedesmaligen Ernte, wenn dieselbe recht gut ausgefallen war, seinen Dorfnachbarn ein Erntebier, womit ein tüchtiger Schmaus verbunden war, zu geben und so geschah es, daß er eines Tages auch seiner Frau nach gehabter reicher Ernte die Absicht ankündigte, ein solches Fest zu veranstalten. Seine Frau hatte aber diesmal eine ganz sonderbare innere Ahnung, sie fürchtete sich vor diesem Tage und that Alles, um ihrem Manne diesen Plan auszureden. Da sie aber keinen stichhaltigen Grund anzugeben wußte, warum der Ernteschmaus nicht gehalten werden solle, so blieb ihr Mann auch bei seinem einmal bestimmten Vorsatze, der Tag ward bestimmt und das ganze Dorf dazu eingeladen.

Der nächste Sonntag war dazu ausersehen, das Haus wurde mit Laubwerk und Garben geschmückt, vom Erntekranz flatterten die seidenen Bänder, die Musikanten stimmten ihre Instrumente, auf den Tischen stand ein reichliches Mahl bereitet und aus den Tonnen strömte schäumendes Festbier in die hölzernen Kannen. Das junge Volk tanzte, die Aelteren saßen beim Trunk, wobei die Jungen immer lebendiger, die Köpfe immer schwerer wurden, Frau Ose aber hatte alle Hände voll zu thun, nachzusehen, damit Jedem sein Recht werde und kein Gast von ihr ungegrüßt bliebe, der die Schwelle des Hauses überschritt. Nur von der großen Diele, wo immer munterer getanzt wurde, hielt sie sich fern, als fürchtete sie, dort das Unheil zu erblicken, das sie schon lange mit trüber Ahnung erfüllte. Da kam auf einmal, nachdem der halbe Nachmittag bereits schon ruhig verstrichen war, ein junges Mädchen, ihre Nichte, ängstlich zu ihr gelaufen und bat sie um ihren Schutz gegen einen jungen Burschen, der sie mit seinen Liebesanträgen verfolgte. Sie sprach ihr Trost zu, in demselben Augenblicke kam aber der junge vom Tanz und Trinken erhitzte Bursche selbst herbei und wollte sie zum Tanze wegholen. Indeß Frau Ose hieß ihn, sich eine andere Tänzerin suchen, als aber jener versicherte, er wolle keine andere, er habe das Mädchen einmal gern und wolle es heirathen, diese aber betheuerte, sie könne ihn nicht leiden und möge ihn[1088] nicht, so verwies sie ihm seine Zudringlichkeit und übergab das junge Mädchen einer Nachbarin, um sie nach Hause zu geleiten. Das stand aber dem Burschen nicht an, er wollte sie mit Gewalt zurückhalten, und als nun Frau Ose, die sich nicht anders zu helfen wußte, ihren Mann zu Hilfe rief, so widersetzte er sich auch diesem und bot ihm frech Trotz. Natürlich ließ sich dieser den Bruch des Hausfriedens nicht gefallen, er wollte sein Hausrecht brauchen und den Fremden hinauswerfen, da kamen diesem aber seine Kameraden zu Hilfe, es stellten sich freilich auch viele der Anwesenden auf die Seite des beleidigten Wirthes, aber schließlich entstand eine Schlägerei, Tische und Bänke wurden umgeworfen, Kannen, Krüge und Eßgeschirre dienten als Wurfgeschosse, Knittel wurden geschwungen, überall hörte man nur Geschrei, Fluchen und Stampfen, da ertönte plötzlich ein furchtbarer Schrei, diesem folgte ein dumpfer Fall und der Ruf: »Mord! Mord!« Die entsetzte Menge ließ plötzlich vom Streite ab, Alle wichen zurück und standen fahlbleich längs an den Wänden, mitten auf der großen Diele aber lag hingestreckt mit blutendem Kopfe jener freche Bursche, der den ganzen Streit angezettelt hatte, vor ihm aber stand Wilken Hahn, die Axt in der Hand und am ganzen Leibe zitternd, das Haar gesträubt und starrte wie leblos den Todten an, der vor ihm auf dem Boden lag. Die Weiber waren hinaus in die Nacht gelaufen und schrieen überall: »Mord! Mord!« ein Knecht schwang sich auf ein ungesatteltes Pferd und sprengte fort um die Obrigkeit herbeizurufen, die Männer aber standen noch immer unschlüssig und trauten sich nicht den Mörder zu greifen, als Frau Ose herbeieilte. Sie rief laut: »Laßt ihn gehen, er hat es wahrhaftig nicht gethan! er nicht.« Damit ergriff sie den Arm ihres Mannes und zog ihn fast wider seinen Willen mit sich fort.

Als die Obrigkeit anlangte und die Auslieferung des Mörders verlangte, war dieser nirgends zu finden, und Frau Ose, welche natürlich vorgefordert ward um über ihn Auskunft zu geben, erklärte, sie könne dies nicht, sie wisse selbst nicht, wohin er sich geflüchtet habe. Unterdessen war aber nichts versäumt worden, um den Mörder aufzufinden, jedes Haus, jeder Stall wurde sorgfältig durchsucht, nirgends fand sich eine Spur, und als man bei erneuerten Nachforschungen noch entdeckte, daß ein Boot fehlte, welches ihm gehörte, so nahm man an, der Todtschläger sei entflohen und nicht mehr auf der Insel. Man gab also die Verfolgung auf und es kehrte allmälig in diesem Theile der Insel die gewohnte Ruhe wieder. Da aber der Mörder nicht gefahndet werden konnte, so ward sein Weib aufgefordert, den Angehörigen des Erschlagenen die übliche Mannbuße zu bezahlen. Frau Ose gab, was sie hatte, da es aber bei Weitem nicht reichte, nahm man ihr ihre Wiesen und Aecker, sie behielt nur das Haus und ihren Garten. Dazu hatte sie drei Kinder, sie mußte also Tag und Nacht arbeiten, wollte sie diese durchbringen. So verging ein Jahr nach dem andern, Frau Ose plagte sich redlich, ja ob sie wohl selbst nur wenig hatte, so ging doch kein Armer ungelabt von ihrer Thür, und so kam es, daß man ihr das, was ihr Mann gethan hatte, nicht nachtrug, sondern daß sie von Alt und Jung geachtet und geehrt ward, gerade so, als wäre sie noch die reiche Frau Ose von ehedem.

Ob nun aber wohl Frau Ose bereits nicht mehr in den Jahren der Jugend, sondern schon im vorgerückten Alter war, so war sie doch noch eine stattliche Frau, die immer noch einem Mann gefallen konnte, und so geschah[1089] es, daß ein reicher Wittwer im Dorfe sein Auge auf sie warf und den Plan faßte, sie zu ehelichen, denn ihr Mann war ja längst verschollen und galt für todt. Er wählte also seine alte Muhme zur Freiwerberin und schickte sie hin zu Frau Ose, um ihr seinen Antrag zu machen. Diese aber wollte von keiner Wiederverheirathung etwas wissen, erklärte, sie könne ja gar keinen andern Mann nehmen, da der ihrige ja alle Tage zurückkehren könne, allein es half nichts, die alte Muhme setzte ihr immer mehr zu, bis sie endlich böse ward und ihr die Thüre wies. Da rief diese, »es werde wohl einen andern Grund haben, daß sie ihren Vetter nicht wolle, sie müsse einen heimlichen Liebhaber haben, denn man sehe ja schon die Folgen ihres Umgangs.« Leider war es so, was anfangs wohl nur boshafte Vermuthung gewesen war, bewahrheitete sich, Frau Ose war in gesegneten Umständen. Nun war auf einmal alle Achtung gegen die arme Frau weg, Jedermann wies mit Fingern auf sie, und der Geistliche ließ sie zu sich kommen, um ihr ins Gewissen zu reden und ihr das Aergerniß, welches sie durch ihre Aufführung im ganzen Dorfe gegeben hatte, ernstlich zu verweisen. Frau Ose aber vertraute ihm unter dem Siegel der Beichte ihr Geheimniß an und Niemand begriff, warum der Pastor von Stund an betheuern konnte, daß Frau Ose eine unbescholtene Frau sei, welche die höchste Achtung verdiene, und wie Jeder, der ihr zu nahe trete, sich einer großen Sünde theilhaftig mache. Natürlich beruhigten sich namentlich die Frauen der Dörfler hierbei nicht, sondern sie beschlossen, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Es verbargen sich also beim Dunkelwerden mehrere derselben in die Nähe von Frau Ose's Wohnung, um aufzupassen, ob sie nicht vielleicht heimliche Gänge mache. Und richtig, nachdem sie ihre Kinder zu Bette gebracht und das Feuer und Licht ausgelöscht hatte, trat sie auf einmal, einen großen, offenbar mit allerlei Lebensmitteln gefüllten Korb am Arme tragend, aus der Thür ihres Hauses und schlug den Weg nach der See ein, von allen neugierigen Horchern ohne irgend etwas zu ahnen verfolgt. Als sie nun die Wenningsteder Dünen erreichten, wo nie Menschen gewohnt hatten, sprang plötzlich etwas Schwarzes vom Boden auf und Frau Ose rief: »Wilken Hahn, ich bringe Dir zu essen!« Als das die Leute hörten, fielen ihnen die Schuppen von den Augen. Der Todtschläger war gar nicht von der Insel weggekommen, er hatte sich in dem Dünensand eine Höhle gegraben und die Frau hatte ihn Jahre lang mit beispielloser Treue genährt und beschützt. Die Obrigkeit rechnete ihm seine langjährige Buße als Strafe an und ließ ihn ungefährdet heimgehen. Aber zum Andenken an diese treue Frau und ihre aufopfernde Gattenliebe heißt jenes Dünenthal bis auf den heutigen Tag das Osethal.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1088-1090.
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