602. Das Crucifix in der Pfarrkirche zu St. Marien.

[579] (S. Löschin, Danzig S. 64 etc. u. Gesch. Danzigs Th. I. S. 159. Karl Th. I. S. 16.)


Ueber der Kapelle der 11000 Jungfrauen in der Marienkirche zu Danzig befindet sich ein in Holz geschnitztes Crucifix in natürlicher Größe. Der sterbende Ausdruck des Christuskopfes mit den gesenkten Augenlidern und die fein und ganz naturgetreu beobachtete Haltung des Körpers und seiner einzelnen Theile machen einen wunderbar schauerlichen Eindruck auf Jeden, der davor steht. Noch schauerlicher ist aber die Geschichte, welche man sich über seine Entstehung erzählt.[579]

Es soll vor ohngefähr 300 Jahren der Rath der Stadt Danzig einem Bildhauer, man sagt, es sei ein Schüler des Michel Angelo gewesen, der schon für mehrere andere Kirchen einzelne herrliche Schnitzwerke verfertigt hatte, aufgetragen haben, für die Ober-Pfarrkirche zu St. Marien ein Crucifix in Holz zu bilden, welches die Andächtigen, indem es ihnen die leidenden Züge des Heilands am Kreuze vergegenwärtige, im Glauben stärken und zur Buße ermahnen solle. Der Künstler hatte in seinem Geiste sich ein Ideal eines solchen gebildet, welches er jetzt in Holz auszuführen suchte, allein alle seine Versuche genügten ihm nicht und er fühlte wohl, daß er nicht im Stande sei, seine Gefühle so wie er wünschte bildlich zu versinnlichen. Die Zeit verrann inzwischen und der Rath drang auf Ablieferung der bestellten Arbeit. Da kam ihm ein teuflischer Gedanke. Er hatte eine wunderschöne Tochter, die viele Bewerber hatte, einer von diesen, ein deutscher Maler ward von ihr mehr als die andern begünstigt, der Vater aber war bisher, weil der junge Mann arm war, seiner Bewerbung hindernd in den Weg getreten. Da fand er auf einmal in den Zügen des Jünglings Aehnlichkeit mit dem Christus, wie er sich ihn im Geiste gedacht hatte. Von Stund an änderte er sein Betragen gegen ihn, er duldete nicht blos, daß er zuweilen in sein Haus kam um der Jungfrau seine Huldigung darzubringen, nein er lud ihn selbst zu sich ein und bald war derselbe fast sein täglicher Gast. Eines Tages lud er ihn auch ein seine Werkstätte zu besuchen und als derselbe ihm gefolgt, aber nach einer längern Zeit nicht in das Wohnzimmer, welches über derselben lag, zurückgekehrt war, bekam das Mädchen Sehnsucht nach ihm, ging hinab und wollte in die Werkstätte hinein, allein sie war verschlossen, wohl aber hörte sie Geräusch in derselben und ein leises Wimmern und Stöhnen. Sie pochte also an und rief: »Vater, Geliebter, was macht Ihr da drinnen?« Da antwortete ihr Vater mit erzürnter Stimme: »Hinweg, störe mich nicht in meiner heiligen Arbeit!« Gleichzeitig aber hörte sie mit erstickter Stimme ihren Geliebten rufen: »Hilfe, Rettung, ich sterbe!« Furchtbar erschrocken stürzte sie davon und rief die Nachbarn herbei, man erbrach die Thüre, und was sah man: der unglückliche Jüngling hing gekreuzigt an einem colossalen Crucifix und hauchte eben den letzten Athemzug aus, der Bösewicht aber, der ihn hierher gelockt hatte um seinen Heiland nach einer wahren Naturstudie zu arbeiten, hatte sich inzwischen erdrosselt und lag entseelt am Boden. Vor Schreck sank auch die Jungfrau als Leiche zu Boden und nach drei Tagen umschloß ein Grab das Paar, welches im Leben nicht vereinigt werden sollte, den Selbstmörder aber begrub man in ungeweihter Erde an der Kirchhofsmauer.91

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Angeblich ist das elfenbeinerne Crucifix im grünen Gewölbe zu Dresden, welches fälschlich dem Michel Angelo selbst zugeschrieben wird, aber von Balthasar Peruzzi seinem Schüler herrührt, das Modell oder die Copie des Danziger.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 579-580.
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