643. Der Erstverstorbene an der Pest frißt die andern.

[603] (S. Hennenberger S. 224.)


Anno 1564 war ein Landsterben und es starben damals in zwei zu dem Königsberger Lobenicht gehörigen Dörfern viele Leute, da kamen drei Bauern zu dem dortigen Pfarrer Hennenberger und baten um ein Begräbniß an einem von ihnen bestimmten Orte. Das Begräbniß ließ er ihnen zu, den Ort aber schlug er ihnen ab, denn der Schulmeister hatte ihm geklagt, daß sie ihm die Hinterthüre mit Todten also vergruben, daß er nicht wohl auf den Kirchhof zum Läuten kommen könne, da sie doch sonst Raum genug hätten. Da sagten sie dem Prediger die Ursache, wie man ihnen berichtet, daß die erste Person, so in einem Dorfe in der Pestilenzzeit stürbe, im Grabe aufsitze und den Laken fresse, und so lange sie zu fressen habe, solle es an dem Orte nicht aufhören zu sterben, solches wäre da und da auch geschehen, sie hätten den und den also sitzend und fressend gefunden, da hätten sie ihm mit dem Spaten den Hals abgestochen und da habe es aufgehört. Hennenberger aber redete ihnen zu, daß die Pestilenz eine Strafe Gottes um ihrer Sünden willen sei, und belehrte sie, daß sie ihre Todten an einer[603] andern Stelle des Kirchhofs begruben, und der Herrgott half, daß dies die letzte Person war, so in dem Dorfe an der Krankheit starb.

In einem andern Dörflein war der Erstgestorbene auf dem Felde begraben worden, denn er hatte sich nie zu Gottes Tische begeben. Diesen hatten Etliche heimlich aufgegraben und ihn sitzend gefunden, das Laken fressend, dem hatten sie den Hals abgestochen, daß sein Blut die Aufgräber besprengte, wie sie denn vom leidigen Teufel verblendet nicht anders sehen konnten. Aber es bekam ihnen übel, denn sie fanden zu Hause überall kranke Leute und es starben hernach viel mehr denn zuvor, weil in dem Dörfchen nur sechs Bauern und etliche Gärtner wohnten, und gleichwohl 49 Personen daraus starben, ohne die, welche sie aufs Feld begraben hatten. Dieselbe Historia hat Georg Noverius, ein Magister, gen Wittenberg an Dr. Martin Luther geschrieben, daß ein Weib auf seinem Dorfe gestorben und nun, wie sie gestorben, fresse sie sich selbst im Grabe auf und darum wären bald alle Menschen im Dorfe gestorben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 603-604.
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