648. Die Jünglinge auf dem Schloßberge und der Hirt.

[606] (Weitläufig behandelt in d. Preuß. Prov.-Bl. Bd. XXII. S. 252 etc. Poetisch bearb. v. Thiele S. 59 etc. 127. 21.)


Eine Viertelmeile oberhalb Tilsit erhebt sich unfern eines abgestumpften Kegels aus dem steilen Ufer ein regelmäßig abgestochener Berg, den zwei viereckige große Schanzen oder Bergplätze umschließen. Die Gräben, besonders um die westliche Schanze sind an einigen Stellen noch so tief, daß sie selbst mitten im Sommer nicht austrocknen. Der Berg selbst hat nach der Mitte zu eine Vertiefung. Hier hat das Schloß des Tilszatis gestanden. Bei der Zerstörung und dem Untergange desselben waren die Jünglinge aus[606] der Umgegend, welche mit dem Burgherrn in freundschaftlichem Bunde standen und den von ihm veranstalteten geheimen Berathungen in seiner Burg beigewohnt hatten, zugegen, halfen die Burg vertheidigen und kamen bei dieser Gelegenheit ums Leben. Diese gehen heute noch als Geister des Nachts auf jener Stelle um.

Man erzählt sich nun aber, daß auf jenem Berge zuweilen sich ein schönes Fräulein sehen läßt, welches man anreden kann und welches selten einen Bittenden abweist. Es weidete aber einst auf den fetten sich am Schloßberg hinziehenden Triften ein Hirt seine Schafheerde. Er war ein guter und getreuer Knecht, allein trotzdem konnte er es nicht verhindern, daß sich auf einmal schnell hinter einander von seiner Heerde mehrere Lämmer verliefen und nicht wieder aufzufinden waren. Natürlich ward ihm von seiner Herrschaft die Schuld gegeben, nicht genug aufgepaßt zu haben und er beschloß sich an das Fräulein auf dem Schloßberge zu wenden, vielleicht daß diese ihm helfen könne. Es gelang ihm auch, dieselbe zu treffen, er erzählte ihr sein Unglück, allein trotzdem, daß sie ihn freundlich anhörte, konnte er keinen andern Rath bekommen, als den, er solle auf seine kranken Thiere gut Acht haben. Nun trug es sich aber zu, daß wieder einmal ein krankes Lämmchen sich von der Heerde entfernte, allein diesmal hatte er besser Acht gegeben, er folgte demselben und sah, daß es in einer Oeffnung des Berges unter Gestrüppe verschwand. Er trieb also seine Heerde nach Hause, am andern Tage aber kehrte er mit Hacke und Spaten zurück, fand richtig die Oeffnung wieder und warf bald so viel Erde aus, daß er bequem hineinkonnte, und siehe er sah sich in einem Stalle der versunkenen Burg, hier standen in langen Reihen die schönsten Pferde, die blanksten Stiere, Böcke und Schafe und mitten unter ihnen waren auch seine Lämmer, aber wohl und gesund, und labten sich an dem würzigen dort aufgeschütteten Heu. Er ging immer weiter und kam durch kostbare Gemächer in einen von Gold glänzenden Saal, hier saßen an einer langen Tafel regungslos schmucke Frauen köstlich geputzt und kräftige Mannesgestalten, in der Rechten das geschwungene Schwert, in der Linken den geleerten Becher haltend, oben an aber saß ein Greis mit weißem Haar, dem indeß der Bart bis zur Erde durch den Tisch gewachsen war und der starren Auges gen Himmel blickte. Das war der Burgherr Tilszatis mit seinem Hofgesinde und den Jünglingen, die mit ihm versunken sind. Dem Hirt aber ward es grausig ums Herz, er suchte den Rückweg und sah sich auf einmal in einer Küche, da war alles noch Leben, an den Wänden glänzte alles von güldenem Geschirre, die Küchenjungen liefen umher, ein mächtig Feuer loderte auf dem Herde und dort briet in großen Pfannen leckeres Schwarzwild und Geflügel, der Koch aber rief ihn zu sich und hieß ihn sich setzen, und bot ihm einen vollen Humpen köstlich duftenden Weines dazu. Das ließ er sich nicht zweimal sagen, er aß und trank bis er toll und voll war, dann aber tappte er sich nach dem Stalle, wo seine Lämmer standen, die trieb er vor sich her, vergaß aber nicht einen Korb mit würzigen Kräutern zum Futter für den morgenden Tag mitgehen zu heißen. Allein was machte er für Augen als er ins Freie gekommen das Körbchen in Gold verwandelt und ebenso die Kräuterbeeren und die Gräser alles aus edelem Metalle erblickte. Noch oft ist er an den Ort zurückgekehrt, den Eingang aber in den Berg hat er nicht wiederfinden können.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 606-607.
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