Erinnerung

[48] 1837.


O Mädchen, das sie hier begraben,

Halb Jungfrau schon und noch halb Kind,

Einst konnte mich dein Anblick laben,

Wie eine Frühlingslandschaft lind.


Vorsprudelnd, wie der Bergquell, flogen

Einst in die Welt die Worte dein,

Demanten stäubend, Regenbogen!

Und doch so hell, gesund und rein!


Wie Rehlein wagten deine Blicke

Heran neugierig, arglos sich;

Scheu flohn, wie jene, sie zurücke,

Wenn nur von fern ein Laurer schlich.


Dir spielten, wogten die Gefühle,

Wie junge Saat, so leichtbewegt,

Die in sich schon der Keime viele

Zu Blüth' und edlem Kerne trägt.


Umflog ein jungfräulich Erröthen

Dir leis dein lieblich Angesicht,

Wie Frühroth war's auf Blumenbeeten,

Das einen sonn'gen Tag verspricht.
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Und jauchztest du des Frohsinns Klänge,

War mir's, als hört' ich über mir

Heimzieh'nder Wandervögel Sänge

Von Südens schönem Lenzrevier.


Und ließest Liebeswort' du gleiten

Zu deinem greisen Vater, lag

Im Ohre mir's wie Glockenläuten

An einem schönen Gottestag.


Gedenk' ich dein, seh' ich noch immer

In eine Frühlingslandschaft mild,

Darauf der Abendröthe Schimmer

Im Scheidegruße sanft verquillt.


Darüber Abendglockentöne,

Daß mir's von Sternennächten ahnt;

Darüber segelnd gold'ne Schwäne

Nach einem fernen Südenland.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 48-50.
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