1.

[186] Glücklicher, dir ward gegeben

Gar ein schöner großer Schmerz,

Für dein ganzes reiches Leben,

Für dein ganzes volles Herz!


Eine Sonnenblume deuten

Möcht' ich deinen tiefen Schmerz,

Die, all deine Tageszeiten

Grüßend, kreiset um dein Herz.


Wär's nur Unkraut kleiner Schmerzen,

Unmuths dürftig Dornenreis,

Spräch' ich: Reiß' es aus dem Herzen,

Gib es allen Winden preis!


Spräche: Laß es nicht umstricken

Wuchernd deinen Lebenspfad,

Laß das Schlingkraut nicht erdrücken

Deine junge Rosensaat!
[186]

Doch es ward im Gartenraume,

Welchen sonst du nennst dein Herz,

Wohl zum höchsten grünen Baume

Dieser heil'ge große Schmerz;


Eine Palme, der Gehege

Deines Gartens Kron' und Preis,

Und zu der sich alle Wege

Schlängeln schön zurück im Kreis!


Die ihr Haupt hoch in den Himmel,

Wurzeln tief zur Erde kehrt,

Daß du zweifelst, ob dem Himmel,

Ob der Erde sie gehört?


Hingestellt so zwischen beide

Als die schönste Mittlerin,

Wächst sie aus der Blumenheide

Wipfelnd in die Sterne hin.


Laß kein Blättlein ihr entwenden

Durch der Lüfte Schmeichelspiel!

Laß unheil'ge Hand nicht schänden

Ihres Stammes schlanken Kiel!


Halte fern die Epheuranken,

Welche Menschentrost drum schwellt,

Die den Baum nicht machen wanken,

Doch durch die sein Schaft entstellt!
[187]

Nicht bedarf's, ihn zu begießen,

Deiner Thränen köstlich Naß;

Früh- und Abendthaue fließen

Ja auf ihn ohn' Unterlaß.


Aus den stillen grünen Matten

Rag' er schweigend, hoch, allein!

Einst in seinem Abendschatten

Wird ein süßer Schlummer sein.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 186-188.
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Gedichte
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