1.

[145] Wieder seh' ein Kreuz ich ragen,

– Ach, ich sah schon ihrer viel! –

Wo ein Wandersmann, erschlagen,

Unterm Dolch des Meuchlers fiel!


Nacktes Kreuz, er sah dich sprossen

Noch als grünen schlanken Baum,

Und von deinem Duft umflossen

Schritt er hin im Frühlingstraum.


Du allein sahst ihn verbluten,

Einsam, fremd und unbekannt

Und auf deinen Blüthen ruhten

Seine Blick' im Tod gebannt.


Und du selbst, gefällt, erschlagen,

Hütest jetzt den Schreckensort;

Als ein Denkmal mußt du ragen

Für so grausen Doppelmord.
[145]

Nur der Vogel, der im Wipfel

Deines Laubs dich preisend sang,

Auf des Kreuzes nacktem Gipfel

Klagt dein Todtenlied er bang.


Und ein Rosenstrauch, als solle

Schmücken er dieß kahle Holz,

Klimmt hinan und pflanzt die volle

Ros' am Kreuzesgiebel stolz.


Ein Orangenbaum, als wolle

Bergen er dieß Kreuz der Schmach,

Hüllt es in das goldfruchtvolle,

Silberblüthenreiche Dach.


Doch es denken fern die Lieben

Noch des Manns, der sie verließ,

Als es ihn nach Süd getrieben

In dieß Blüthenparadies.


Und den Längstverschollnen sehen

Sie in blühender Gestalt

Fern noch durch die Rosen gehen,

Schlummernd ruhn im Lorberwald.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 145-146.
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Gedichte
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