Zwei Poeten

[173] Was des Volks voll Ohrenweide

Auf Neapels Molo steht,

Um den Mann im Narrenkleide,

Himmelwärts sein Aug' verdreht!


Wie aus der Tritonen Schlunde

Dort am Marktplatz Well' auf Well',

Sprudelt aus verzerrtem Munde

Plätschernd ihm der Verse Quell:


Und wie Brunneneimer fangen

Deine Söhne, Lazarus,

Seine Ritter, Zaubrer, Schlangen,

Feen und Drachen vollen Guß!


Doch mein Herz, fast will's ihn neiden,

Grüßt ihn Bruder in Apoll!

Ist's Ein Quell nicht, der in Beiden,

Nur verschiedne Bahnen quoll?


Wie die Schönheit seiner Glieder

Durch die Lumpen des Gewands,

So durch Fetzen seiner Lieder

Leuchtet hell des Gottes Glanz.
[174]

Während auf dem Polsterthrone

Seines Munds Hanswurst sich dehnt,

Und als echter Lazarone

Maccaronensold ersehnt;


Seh' ich um die Stirn' ihm rinnen

Jovis Wetterleuchten bald,

Seine Blick' als Adler minnen

Mit dem schönsten Lorbeerwald.


Voll von Helden, Wundern, Sagen

Sieht er rings die weiße See

Gleich dem Buche aufgeschlagen

Einer Riesenepopee.


Und des Golfs Gestade dehnen

Blüthenvoll sich um die Fluth

Wie ein Kranz, der, es zu krönen,

Auf dem Buch des Meisters ruht.


Der Vesuv dort scheint ein Dichter,

Ganz von Christi Thrän' erglüht,

Dem aus trunknem Mund ein lichter

Flammendithyrambus sprüht!


Lieder, Bilder, Reim' umklingen

Um und um dich, mein Poet,

Brauchst vom Blatt nur abzusingen,

Was schon rings geschrieben steht.


Jedes spröden Reimes Hallen

Macht des Meeres Rauschen gut:

Doch auch Perlen, dir entfallen,

Schnell verschlingt sie, ach, die Fluth!
[175]

Lauschend hält dich Volk umfangen,

Elend in dem hohlen Blick,

Hungers Furchen in den Wangen,

Last der Knechtschaft im Genick.


Um jed' Antlitz um die Wette

Breitet Lächeln jetzt sich aus,

Das aus seinem Furchenbette

Selbst den Hunger wirft hinaus!


O wie gut dieß heil'ge Lächeln

Dem zerlumpten Bettler steht,

Wie vom Mast der Flagge Fächeln

Das zerschellte Wrack umweht!


Wie von blitzzerspellten Bäumen

Noch ein grünes Zweiglein bebt;

Wie ob schwarzen Brandesräumen

Eine Schwalbe gastlich schwebt!


Wie ein spielend Kind am Rücken

Einer schlummernden Hyän,

Traun, daß fast ich zu erblicken,

Orpheus, deine Wunder wähn'!


Sinnend senkt mein Aug' sich nieder,

Mich berührt des Gottes Hauch!

Feiert je ihr, meine Lieder,

Solchen Sangtriumph wohl auch?


Wenn ich's je bedauern lerne,

Daß kein eigner Kranz mich schmückt,

Ist es dann, wenn ich ihn gerne

Auf ein würd'ger Haupt gedrückt.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 173-176.
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Gedichte
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