Das Alpenglühen

[125] Das ist im Thal ein Glänzen, Kosen

Von Blumen, Bäumen, Sonnenlicht,

Durch die sich, wie lebend'ge Rosen,

Ein Kranz von blüh'nden Menschen flicht!


Mit kaltem strengen Angesichte

Blickt nur das Alpenhaupt darein;

Ist' s denn nicht auch berührt vom Lichte?

Was mag sein düstres Sinnen sein?


Nacht ist's geworden allzuschnelle

Und Dunkel hüllt des Thales Hag;

Nicht ahnt, wer's sah so froh und helle,

Daß es so finster, stumm sein mag!


Auf allen Wesen, graunbeklommen,

Der Finsterniß Vernichtung ruht!

Einst, als die erste Nacht gekommen,

Wie war es, Mensch, dir da zu Muth?


Den Bäumen bangt und graut im Düstern,

Die Zweige tasten scheu im Kreis;

Ihr Dasein noch sich zuzuflüstern

Beginnt's im Laub zu rauschen leis.
[126]

Der Rose Gluth kann jetzt nicht hellen!

Daß sie der Mensch zertrete nicht,

Läßt sie ihr Duften bange quellen,

Ihr Duft wird Hülfeschrei und Licht!


Der Lichterglanz, der wie mit Sehnen

Im Thal aus Fensteraugen bricht,

Er quillt wie flammenhelle Thränen

Um ein verlornes, größres Licht.


Doch sieh vom Flammenkranz umschlungen

Das Haupt der Alpe, gluthumrollt,

Als ob zu sparen ihr gelungen

Ein Theil von ihrem Tagesgold!


Als ob tagüber sie gefangen

Im Kranz die Rosen all' im Thal;

Als ob bei Tag dir von den Wangen,

Du Volk des Thals, das Roth sie stahl!


Wenn um der Witwe Leib sich senken

Die schwarzen Trauerhüllen dicht,

Glüht oft ein süßes Rückgedenken

Noch fort auf ihrem Angesicht.


Du aber, heitres Herz im Thale,

Nun deine hellen Tage blühn,

Bewahre sorgsam ihre Strahle,

In deinen Nächten nachzuglühn.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 125-127.
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