Der Sennerin Heimkehr

[133] Es blinken die Alpenzinnen

In Eis schon silbern ganz,

Der Herbst entlaubt im Thale

Der Bäume grünen Kranz.


Ums Dörflein dort am Hange

Grünt noch die Wiese fort,

Doch auf der Wiese die Blumen

Sind alle schon verdorrt.


Horch, was erklingt vom Berge

Wie voller Glockenklang?

Was tönt zum Thale nieder

Wie süßer Brautgesang?


Das ist mit ihrer Heerde

Die junge Sennerin,

Die von den Alpen nieder

Zur Heimat wallt dahin.
[134]

Die schönste ihrer Kühe

Mit hellem Glockenlaut,

Voran mit frischem Kranze,

Geschmückt wie eine Braut.


Rings um sie hüpft so fröhlich

Die ganze Heerde drein,

Wie treue Jugendgenossen,

Die sich des Tages freun.


Der schwarze Stier den Festzug

Als würdiger Pater führt;

Er schreitet hin bedächtlich,

Wie's solchem Herrn gebührt.


Und vor dem ersten Hause

Jauchzt dreimal hell die Maid,

Daß laut es gellt durchs Dörflein,

Durch Thal und Alpen weit!


Die Mütterlein und Dirnen

Sind flink herbeigerannt,

Die Sennerin drückt Allen

So warm und treu die Hand:


»Viel Grüße, schöne, frische,

Von grünen Alpenhöhn!

Wie lange, ach, wie lange,

Daß wir uns nicht gesehn!


Den ganzen langen Sommer

Saß ich so ganz allein

Mit Heerden und mit Blümlein,

Mit Sonn' und Mondenschein!«
[135]

Sie grüßt die Burschen alle

Mit heit'rem Angesicht,

Nur einen, und den schönsten,

Den grüßt sie eben nicht.


Nicht scheint es ihn zu grämen,

Und lächelnd läßt er's geschehn!

Er hat wohl auch die Schöne

So lange nicht gesehn?


Er trägt ein grünes Hütlein

Umsäumt von Rosen dicht.

Ei, solche Alpenrosen,

Im Thale blühn sie nicht!

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 133-136.
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Gedichte
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