Paradiesvogel

[244] Wie er im raschen Flug

Hin durch die Wolken schiffte,

Stumm durch den zwitschernden Zug,

Der Ahasver der Lüfte.


Stumm wie ein irrer Komet

Mit glänzendem Leibeskerne,

Die sprühende Schleppe weht

Ihm nach weithin in die Ferne.


Der Tod ihn nimmer ruft,

Noch sah kein Aug' ihn modern;

Vielleicht daß er mag in Duft,

Wie sterbende Sterne verlodern?


Ihn lockt nicht die blühende Au,

Um Nahrung herabzuwallen,

Aus Wolken pflückt er den Thau

Im Flug, wie Blumen im Fallen.


Und weil sie sein Nest im Wald,

Sein Grab nicht sahn auf der Wiese,

Drum hieß er dem Volk alsbald

Der Vogel vom Paradiese.
[245]

Die Sage aber erzählt:

Als Nachtigall einst geboren,

Von Rosenliebe beseelt,

War er zum Gesang erkoren.


Er sang, daß starres Erz

Selbst Blüthentrieb verspürte;

O daß er des Lenzes Herz,

Des flücht'gen, zum Bleiben rührte!


Fortzog der Lenz durch das All'

Mit Rosen, Liedern und Scherzen,

Da ahnte die Nachtigall

Den Tod vom gebrochenen Herzen.


Sie fleht in der Seele Pein:

»Herr, heb' empor mich von hinnen!

Laß mich bei dir allein,

Dem Unvergänglichen, minnen!«


Da ging aus des Herren Hand

Als Adler sie neugeboren,

Von Sonnenlieb' entbrannt,

Zum Himmelsflug erkoren.


Da flog zum Quell des Lichts

Fort, fort durch Wolken und Sterne,

Schon schwand ihm die Erd' in Nichts,

Die Sonne doch blieb gleich ferne!


Sein Aug' von Kristall schon brach,

Schon schmolz ihm die eherne Schwinge;

Im Niedersinken doch sprach

Er so zum Herrn der Dinge:
[246]

»Darf nicht bei dir ich im Licht,

Dem Unvergänglichen, wohnen,

O schleudre zurück mich nicht

Zu niedern Erdenzonen!«


Da bannt' ihn der Herr im Flug

Und schuf ihn, wie dort er schiffte

Stumm durch den zwitschernden Zug,

Der Ahasver der Lüfte.


Nicht erdwärts schwebt er, daß nicht

Befleckt sein rein Gefieder,

Nicht sonnenwärts zum Licht,

Vorm Ziele sänk er ja wieder.


Sein Herz nicht überfließt's

Von Flammen des Liederdranges;

Was oben, unsingbar ist's,

Was unten, nicht werth des Gesanges!


Ein Stern des Himmels, erglüht

Er hell den Irdischen hüben;

Eine Blume der Erde, blüht

Er bunt den Geistern drüben.


Und wenn er vorbei euch zieht,

Stumm durch den singenden Reigen,

Verstandet ihr einst nicht sein Lied,

Lernt jetzt verstehn sein Schweigen.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 244-247.
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