Zwei Hähne

[237] Im Turnierplatz einer Tenne,

Auf dem Thron von Schobern, Scheitern,

Sitzt in Anmut Jungfrau Henne,

Richtend zwischen zweien Streitern.


Ach, es hat ihr sittsam Gackern,

Ihr jungfräulich sittsam Schreiten

Liebentflammt die beiden Wackern,

Die um ihren Preis nun streiten.


Welcher ist's, den sie erkoren,

Dem sie weiht die gleiche Flamme?

Goldhahn mit den schmucken Sporen?

Schwarzhahn mit dem schönen Kamme?


Goldhahn ist ein stolzer Ritter,

Trägt ein Wamms orangenfarben,

Goldnen Panzer, bunte Flitter,

Grüner Federn voll Garben!


Siegbewußt im Selbstgefallen

Steht der Stutzer ganz verloren,

Doch der Maid zumeist vor Allem

Traun, behagen seine Sporen.
[238]

Schwarzhahn prunkt nicht also eitel!

Melancholikus von Hause,

Einfach schwarz vom Fuß zum Scheitel

Trägt er Mantel, Rüstung, Krause.


Seufzend mit gesenkten Blicken

Birgt er in sich seine Flamme,

Doch die Dame fand Entzücken

An dem schönen rothen Kamme.


Horch, Trompetenstöße krähen!

Auf zum Kampf, ihr tapfern Ritter!

Stäubend in den Lüften wehen

Federn statt der Lanzensplitter.


Wie sie an einander springen,

Grimmig mit den Flügeln schlagen,

Und mit Blick und Kralle ringen,

Degengleich die Schnäbel tragen!


Weh', ein Kleinod hat verloren

Jeder in des Kampfes Flamme,

Goldhahn seine schönen Sporen,

Schwarzhahn ein gut Stück vom Kamme!


Und die Dame steht unschlüssig,

Wer zum Siegespreis zu wählen?

Schwarzhahn, der des Kammes müssig?

Goldhahn, dem die Sporen fehlen?

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 237-239.
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Gedichte
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