|
[175] Tönend fließt im See die Welle,
Kähne schaukeln in den Kieden,
Auf der Insel die Kapelle
Blinkt aus grünem Waldesfrieden.
Ihre Glockenrufe gleiten
Zitternd über Wellenkreise,
Ringen tönend in die Weiten,
Sterben dann verhallend leise,
Daß die Schwalben, die da fliegen,
In Musik die Schwingen baden,
In Musik sich lieblich wiegen
Schifflein auf den Wellenpfaden.
Bald wie Sehnsucht, bald wie Klagen
Kommt der Glockenton gezogen,
Jetzt ein schüchtern stockend Fragen,
Jetzt der Hoffnung voll'res Wogen.
Wundersames, eignes Klingen,
Als ob Fühlen im Metalle!
Um zu Herzen so zu dringen,
Pocht ein Herz wohl in dem Schalle.
[176]
Nicht des Glöckners Hände führen
Taktgerecht die Glockenstränge;
Gläubig an das Seil zu rühren,
Drängt sich hier die Pilgermenge.
Denn die Sage kündet's Allen:
Wem vergönnt, dieß Seil zu schwingen,
Was er bei der Glocke Hallen
Wünschen mag, es soll gelingen!
Ruhlos tönt das Glöcklein immer,
Tönt zu allen Tageszeiten;
Denn die Wünsche schlummern nimmer,
Pilgern ruhlos in die Weiten.
Ob die Klänge voller schwellen,
Ob im Wind sie leis vergehen,
Immer über diesen Wellen
Schwebt des Geistes mächtig Wehen.
Und du fühlst, vom Hauch getroffen,
Durch die eigne Brust die Fluthen
All der Andern Leid und Hoffen,
Fremde Schauer, fremde Gluthen;
Fühlst, was Herzen kann bedrängen,
Was sie sporne, was sie quäle;
Denn es tönt in jenen Klängen
Durch das All die Menschenseele.
Ausgewählte Ausgaben von
In der Veranda
|
Buchempfehlung
Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«
142 Seiten, 8.80 Euro