4. Seebild

[181] Durch die Wellen steuert ein Schwan so einsam,

Hell und blank, wie die schimmernde Wasserlilie,

Wie im Azur die ziehende Silberwolke,

Blume der Erde zugleich und Bote des Himmels.

Von Balkonen herab und Blüthenterassen

Streuen ihm weiße Hände nährende Brodsaat.

Feierlich schwebt er heran, fast ohne Regung,

Stäte Bewegung doch in seliger Ruhe,

Gleich dem rückenden Zeiger auf dem Uhrblatt,

Gleich dem reisenden Mondesnachen im Aether.


Wie du feierlich stolz, o Schwan, dahinziehst,

In dem flimmernden See ein einsamer Segler,

Unter dir die glänzenden Spiegelbilder

Blühender Ufer, goldener Himmelswölbung,

Mächtiger Berge, die Natur rings thürmte,[181]

Freundlicher Stätten, die der Mensch hier geschaffen,

Wird des See's kristallener blanker Spiegel

Mir zum Spiegel der Zeiten und Geschicke,

Wirst du selbst mir ein hehr und mahnend Sinnbild.


Wenn dir Sturm den schneeigen Flaum emporsträubt,

Weithin flattert sein schwarzer Wolkenmantel

Und die Wellen wie drohende Fäuste sich ballen

Sieh, dann liegt der Spiegel zerschlagen, in Splittern,

All die glänzenden Bilder sind zerstoben

Und versunken in die chaotische Brandung.


Doch auch wenn in sonniger Ruhe lautlos

Ueber dir tiefblau der Aether sich breitet,

Seines Lebens wollusthauchender Athem

Leise, leise, wie Blumenduft, den See streift,

Der so glatt und blank, wie metallgegossen,

Daß er sich sanft zu regen beginnt und zu kräuseln;

Da auch über den Spiegel wallt ein Zittern,

Wellengeriesel und glitzernde Flimmerlichter

Reißen tanzende Furchen in seine Flächen,

Und die Risse durchziehn der Bilder Konturen,

Daß ihr Band sich löst in Stücke zerfallend,

Daß der Berge Säulen querüber gespalten,

Wie geborsten die Gletscher, durchsägt die Wälder,

Wie geknickt und zerpflückt die Blumen des Ufers.

Auf den Höhen die Burg, im Thal die Hütte,

Neben dem Römerstein der schimmernde Kirchthurm,

Altes und Neues, sowie die Menschlein dazwischen,

Alles zerschwankend, zerbröckelnd und zerfließend!

Aber feierlich über den Bildertrümmern,

Ueber dem Schwankenden ziehst du, einsamer Lootse,[182]

Deine Bahnen dahin, in beseligter Ruhe,

Blank und rein, wie die schimmernde Wasserlilie.

Leuchtend, wie im Azur die Silberwolke,

Blume der Erde zugleich und Bote des Himmels.


Also nagen und rütteln an allem Dasein

Selbst die sonnigsten Stunden, wie spielende Wellen;

Durch den lauschenden Weltraum knistert und rieselt

Still und stät ein Verwittern und Verfallen,

Körnlein Sandes im Stundenglase verrinnend.

Aber das Dulden und Wünschen, Ringen und Hoffen

Hingesunkner Jahrhundert' und Menschengeschlechter

Lebt noch fort und fort in geläuterter Klarheit.

Ueber dem Wellenspiel der fliehenden Stunde,

Ueber den Völkertrümmern und Zeitenschutte,

Ueber den Urnen aschegewordener Herzen

Zieht der Wahrheit ewiger Lichtgedanke

Unaufhaltsam die Bahn in beseligter Ruhe,

An der Weltenuhr der weisende Zeiger,

In der Erdennacht die strahlende Leuchte,

Hell und rein, wie du, sein liebliches Sinnbild.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 181-183.
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