Dritte Szene

[360] Paris. Tuilerien. Saal der Herzogin von Angoulême.

Die Herzogin von Angoulême und ihre Dame d'atour, die Gräfin von Choisy.


HERZOGIN VON ANGOULEME. Liebe Choisy, lies mir etwas vor. Mir schmerzt der Kopf.

GRÄFIN VON CHOISY. Gern, Königliche Hoheit. – Soll ich etwas neu Erschienenes lesen?

HERZOGIN VON ANGOULEME. Tu es. Nur keine Zeitungen. – Was das für ein öder, trüber Nachmittag ist, – selbst die heilige Messe erfreute mich nicht.

GRÄFIN VON CHOISY. Hier ist ein Gedicht vom Herrn C-n, einem der neuen Poeten.

HERZOGIN VON ANGOULEME. Lies den Seneca oder den C-n. Mir ists eins.

GRÄFIN VON CHOISY. Ich lese, Hoheit.


Sie liest.


»Es steht der Sultaninnen erste

Am Fenster ihres Marmorschlosses.

O welche wohlgefügte Marmorquadern,

Wie schimmern sie selbst durch die Nacht!

O welche Rosen blühen in dem Zimmer,

O welche Ambradüfte hauchen da!

Doch was sind Marmorquadern, Rosen, Ambra,

Wenn die Gestalt der Sultanin, mit

Den prächtgen Schultern, blendend weiß,[360]

Als wäre frischer Schnee darauf gefallen,

Mit ihren Lippen, dunkelrot,

Als wehten Flammen dir entgegen,

Mit ihrem Liebesflüstern, wundersüß,

Als hauchte Duft aus Edens Pforten,

Darunter steht in ihrer Schöne!

Die Diener und die Dienerinnen

Erwarten knieend ihre Worte,

Der Sultan selbst vergißt das Reichsschwert,

Harrt in dem Hintergrunde liebeseufzend,

Und schwelgt in ihres Nackens Anschaun.

Sie blickt hinaus: vor ihren Augen steigt

Das Heer der Sterne freudetrunken auf,

Der Bosphorus jauchzt auf mit seinen Wogen,

Die große Stambul ahnet ihre Nähe

Und bebt vor wonnigem Gefühle,

Die Küsten Asias und Europas schmeicheln

Zu den Sandalen ihres zarten Fußes, –

Sie blickt zurück, – sie faßt ihr Herz –«

HERZOGIN VON ANGOULEME. Wie sinkt die Poesie. Auch in ihr Revolution. Was für falsche Verse!

GRÄFIN VON CHOISY. Wer hat denn den Versen das Gesetz gegeben, daß sie grade sein müssen, wie die des Racine oder eines anderen Klassikers?

HERZOGIN VON ANGOULEME. Auch du eine Empörerin, Choisy? – Die Welt ist überreif. – Lies das Ende des Gedichtes.

GRÄFIN VON CHOISY. Es ist kurz:


Sie liest.


»Und Sie seufzt!« –

HERZOGIN VON ANGOULEME. Und Sie seufzt – – Ja, das mag wahr sein, ungeachtet des zu kurzen Verses.

GRÄFIN VON CHOISY. Jesus Maria, wenn Er gelandet wäre!

HERZOGIN VON ANGOULEME. Wie kommst du auf den Gedanken?

GRÄFIN VON CHOISY. Königliche Hoheit, der Gedanke kommt über mich.

HERZOGIN VON ANGOULEME. Unsere Staatsmänner werden Ihn vor der Landung zu behüten wissen. – Aber die Brust ist auch mir überschwer. – Ich gehe zu meinem Oheim.


Beide ab.
[361]


Quelle:
Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Band 2, Emsdetten 1960–1970, S. 360-362.
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