[Wenn dich die Dichtkunst schaffen heißt]

[348] Wenn dich die Dichtkunst schaffen heißt,

Und du das Drama wählst,

Wenn dich aufs Epos führt der Geist,

Und du dem Volk erzählst:


Bist kaum du noch als Dichter hier,

Es ist nur, was du schufst,

Und jene Geister sind statt dir,

Die zauberhaft du rufst.


Doch wenn die Leier an du klingst

Und tönst von Gram und Lust,

Dann bist du selber, was du singst,

Das Lied ist deine Brust.


Nichts sichtbar als nur du und ich,

Nichts hörbar als nur du,

Das Innre ist allein mit sich,

Kein Mittler tritt hinzu.


Da aber nimm dich nur in acht,

Daß du du selber seist,

Daß nicht, was du getan, gedacht,

Als andern dich erweist.


Sprichst du von tiefem Seelenschmerz

Und warst ein eitler Tor;

Von ewger Dauer für dein Herz,

Ein Wetterhahn zuvor;


Singst du das Lob der Einsamkeit,

Sonst laut im Volksgewühl;

Nennst du die Welt, so groß, so weit,

Zu eng für dein Gefühl:


Sie ist ein schlimmres Schauspielhaus,

Als wo man spielt zu Nacht –

Hier lacht man nur den Dichter aus,

Dort wird der Mensch verlacht.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 348-349.
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