Der Bauer, der sein Kalb verloren hat

[39] aus dem Französischen


Um ein verlornes Kalb zu suchen,

Ging einst ein Bauer in den Wald,

Bestieg die höchste aller Buchen

Und lauschte rings umher. Doch bald

Naht ihm sich ein verliebtes Pärchen

Und strecket sich ins weiche Gras,

Das Mädchen stöhnt, das süße Herrchen[39]

Erblickt beim Kuß ich weiß nicht was,

Genug, er dehnt sich an der Erde

Wie ein getretner Wurm und spricht

Mit wollustatmender Gebärde:

»Was seh ich und was seh ich nicht!«

Der Bauer steiget von der Spitze

Des Baums, auf dem er forschend stand

Herab und tritt zum Rasensitze,

Wo er die beiden – küssend fand:

»Ach Herr, ihr könnt mich glücklich machen,

Ihr sehet ja, spricht er schon halb

Beruhiget, so viele Sachen,

Sagt mir, seht ihr nicht auch mein Kalb.«


Den 28 November 1806


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 39-40.
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