Der Genius der Zukunft

[22] Wenn bei mancher Kluft im Leben

Hocherschreckt die Menschen beben,

Gram das wunde Herz durchdringt,

In der Brust Verzweiflung ringt,


Siehe, da führt sie mit warnendem Blicke,

Lächelnd der Genius vom Abgrund zurücke,

Zeigt ihnen Lethens beglückenden Strand,

Auf! Hin, o Waller, ins bessere Land.


Wenn, gedrückt von schwerem Kummer,

Hingestreckt zu leichtem Schlummer[22]

In des Mittags heißer Glut,

Der gequälte Arme ruht,


Zeigt er ihm jenseits der menschlichen Leiden

Tröstend der Zukunft beglückende Freuden,

Zeiget ihm Lethens beglückenden Strand,

Auf, hin, Gequälter, ins bessere Land.


Wenn der Greis gekrümmt am Stabe,

Bei des einzgen Sohnes Grabe,

Ihm so manche Träne zollt,

Die dem matten Aug entrollt.


Holder, da zeigst mit belebender Milde

Du ihm den Sohn in Elysiens Gefilde,

Sehet, an Lethens beglückenden Strand,

Wandelt er fröhlich im besseren Land.


Wenn, durch lange Qual ermattet,

Todesnebel uns umschattet,

Schon verlischt des Lebens Licht,

Sterbend unser Auge bricht,


Hin durch des Todes weitgähnende Schlünde

Führt uns der Genius in friedliche Gründe,

Führt uns zu Lethens beglückenden Strand,

Hin in Elysiums besseres Land.


Den 21ten März 1806


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 22-23.
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