Diplomatisch

[303] Halt dich entfernt, geh nicht nach Stolzenfels.

Du bist kein Fels, drum sei nicht stolz.

Und wärst dus auch, nicht stolz, mein ich, ein Fels,

Die kleinen Wellen waschen unverzagt,

Bis Teil auf Teil das stolze Haupt sich neigt

Und donnernd es herabstürzt in den Schlund,

Den Spiegel überragend kaum der Fluten.

Sieh nur den Rhein, wie fügsam, er sich krümmt,

Den Ufern folgend, die ihm Gott gesetzt:

So macht er Wiesen grün und trägt das Schiff

Und ist der Segen einer kleinen Welt.

Doch weht der Wind her vom Johannisberg,

Dann türmen sich die Fluten, und er schlägt

Die Ufer, die ihn machen erst zum Strom.

Denn ohne Ufer wär er Überschwemmung,

Ein gräulich Mittelding von See und Sumpf,

Aus dem die Sonne feuchte Nebel zieht,

Von Unken nur bewohnt und ihrer Brut.

Nach Bingen geh, sieh dort den Mäuseturm,

Wo Schwaches einst dem Mächtgen obgesiegt,

Weil aufgespeichert er für sich das Gut,

Das Gott, der Sonne gleich, für alle schuf.

Vertrau nicht allzufest auf Stamm und Art,

Der Adler auch ist König nur der Luft,

Solang ihn hoch empor die Schwinge trägt;

Ist erst des Flügelschlages Kraft erlahmt,

Der Geist gewichen aus der stolzen Brust,

Gilt die Gestalt nur noch als Wappentier,

Das Mäuse fressen wie den heilgen Bischof,

Der heilig war, doch fromm nicht und nicht gut.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 303.
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