Elegie auf den Tod einer Grille

[30] Musen, hüllet mir die Leier,

Die sonst nur der Freud erklang,

In der Trauer dunkeln Schleier,

Klagend halle mein Gesang!

Schwermutsvoll, in dumpfen Tönen

Weine, holde Elegie,

Fleuch, o fleuch, mit leisem Stöhnen,

Hin ins Land der Phantasie!

Hebe dich auf leichten Schwingen

Zu der Göttin hehrem Thron,

Hilf ein Totenlied mir singen

In Tibulls gerührtem Ton!

Zwar nur eine kleine Grille

Ist es, was mein Lied beweint,

Aber diese niedre Hülle

Barg mir einen teuern Freund.

Einen Freund, der mir die Sorgen

Aus dem wunden Herzen sang,

Der an jedem frühen Morgen

Freudig mir entgegensprang.

Er, der oft mit seinen Scherzen

Lust und Heiterkeit mir gab,

Stürzt, ein Raub von herben Schmerzen,

In sein allzufrühes Grab!

Tot liegt er vor meinen Füßen,

Tot vor meinem feuchtem Blick,

Unerweckbar meinen Küssen,

Nimmer kehret er zurück!

Schlafe denn, da dich mein Kummer[30]

Nimmermehr zum Leben ruft,

Schlafe denn den Todesschlummer,

Ruhe sanft in düstrer Gruft!


Den 14ten Mai 1806


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 30-31.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte und Dramen
Medea: Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dritte Abteilung des dramatischen Gedichts »Das Goldene Vlies«
Das goldene Vliess: Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen. (Der Gastfreund, Die Argonauten, Medea)
Gedichte Reclam
Sämtliche Werke: Erster und zweiter Band: Gedichte