Euripides an die Berliner

[295] Seid ihr so arm in eurem eignen Haus,

Daß ihr Geräte borgt aus fremden, fernen?

Spricht das Gefühl nicht eignen Inhalt aus,

Wie solls im Fremden sich zu finden lernen?


Was heut geschehn, preis ich dem Lied nicht an

Und Gegenwärtges hab ich nie besungen,

Was ist, ist dem Bedürfnis untertan,

Vergangnes, weil verklärt, ziemt Dichterzungen,


Doch die Empfindung, die dem Liede lauscht,

Sie ist von heut und ist mit dir geboren,

Wie sich dein Selbst mit keinem andern tauscht,

Ist, was du selbst nicht fühlst, für dich verloren.


Der Anteil liegt in Sachen, nicht im Wort,

Dein Mitleid wecken nur verwandte Schmerzen,

Erbt auch der Geist durch die Geschlechter fort,

Sich selber Grab und Wiege sind die Herzen.


Wenn anders ich in meinen Tagen sang,

Als Äschylos, erreichbar wohl für keinen,

Wars, weil ein andres Echo mir erklang

Aus meiner Hörer Brust, als ihm aus seinen.


Und ihr nach zwei Jahrtausend Zwischenraum,

Das Widerspiel von meines Volkes Leben,

Wollt, was das Wissen euch verdeutlicht kaum,

Dem Mitgefühl als weiche Nahrung geben?


Ehrt ihr mich, wohl, so eignet mich euch an,

Füllt eure Adern straff mit meinem Blute,

Und so gestärkt, tut, wie ich selbst getan:

Erzeugt das euch Gemäße und das Gute.


Und könnt nicht ihrs, noch denen ihr vertraut,

So weint und klagt im härnen Büßerhemde,

Nicht daß ihr stolz auf Mitgeborne schaut,

Weil ihr euch angeheuchelt habt das Fremde.
[296]

Dem aber, der euch deutelt Neu und Alt,

Sagt nur, es sein die schlechtsten der Insekten,

Die ihre Eier, weil sie selbst zu kalt,

In fremde Körper auszubrüten legten.


Wer Leben schafft, das seiner Zeit gehört,

Wärs auch im Raum und durch die Zeit begrenzter,

Tat mehr, als wer zum Sabbath auf beschwört

Die Schatten von Gespenstern für Gespenster.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 295-297.
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