Frage und Antwort

[365] Lebt der Mensch zu seinem Glücke?

Lebt der Mensch zu seiner Qual?

Fragen weinend meine Blicke

Euch, ihr Sterne ohne Zahl.


Lockend winket dort die Freude,

Gräßlich drohet hier der Schmerz!

Wonne wandelt sich zum Leide,

Sterbend bricht das arme Herz.


Schöne Phantasieen schwinden

Wie die leichten Nebel hin,

Und die ernsten Sorgen binden

An den Staub den freien Sinn.


Alles Wissen, alles Streben

Raubt uns nur der Einfalt Glück,

Keine Weisheit kann uns geben

Süßer Kindheit Traum zurück.


Weinend fragen meine Blicke

Euch, ihr Sterne ohne Zahl:

Lebt der Mensch zu seinem Glücke?

Lebt der Mensch zu seiner Qual?
[365]

Lichte Wolken seh ich glänzen,

Dunkel weicht dem Rosenschein –

Sterne bilden sich zu Kränzen,

Geisterhauch durchrauscht den Hain,


Und mit süßen Flötentönen

Flüsterts aus der Lüfte Blau:

Weihe dich dem Guten, Schönen,

Blühts auch hier im Tränentau;


Kämpfe kühn mit dem Geschicke!

Nein, du lebest nicht zur Qual!

Himmelan, zum ewgen Glücke

Führt dein Weg durchs Sorgental.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 365-366.
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