Gedanken am Fenster

[150] Fernüber durch die Berge

Ertönt es dumpf und schwer,

Wie Leichentuch um Särge,

Verhüllt Gewölk die Berge,

Und drinnen geht der Herr.


Die Erde siehts mit Bangen,

Die Luft, sie regt sich nicht,

Die Vögel, die erst sangen,

Sind still zu Nest gegangen,

Das Weltall ahnt Gericht.


Es blitzt! was zuckst du, Auge?

Denkst du der Tränen itzt

In einem andern Auge,

Für die ein Rächer tauge,

Gleich jenem, der dort blitzt?


Ein Wirbelwind von oben

Greift nieder in den Staub;

Nun werden Wetter toben,

Schon ist der Keil gehoben,

Bezeichnet ihm sein Raub.


Doch horch! welch leis Bewegen

Rauscht durch die Blätterwand?

Was Strafe schien, wird Segen,

Vom Himmel rieselt Regen

Und tränkt das durstge Land.


Grinzing, im Sommer 1822


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 150-151.
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