Liebe und Wollust

[62] an Molly


Schwestern sind sie, doch sie meiden

ewig sich ohn Unterlaß;

wählst du eine von den beiden,

mußt du von der andern scheiden,

schwörest du der andern Haß!


Schwestern sind sie, ähnlich scheinen

sie beim ersten Blicke, doch

wer sie suchet zu vereinen,

wird den Irrtum bald beweinen,

denn er nimmt der Wollust Joch.


Unter mancherlei Gestalten

schleichet sich die Listge ein,

läßt du einmal sie obwalten,

weiß sie schlau dich festzuhalten,

mußt du stets ihr Sklave sein!


Ihren schimmernden Altären

nahet sich die halbe Welt;

ihre süße Macht verehren

die selbst unter Schmerzenszähren,

die ihr Stachel teuflisch quält.
[62]

Schön ist ihre Außenseite,

lieblich lacht ihr Rosenmund,

aber lockend lacht sie heute

und stößt morgen ihre Beute

wild in der Verzweiflung Schlund;


in der hocherhabnen Linken

hält sie schmeichelnd den Pokal,

aber folgst du ihren Winken,

willst den süßen Nektar trinken,

mordet dich ihr scharfer Stahl.


Ruhig, mit bescheidnen Mienen

naht die zweite, sanft und mild;

und wohl denen, die ihr dienen

rein und makellos; wohl ihnen,

all ihr Sehnen wird erfüllt.


Zwar lockt nicht mit frechen Blicken

sie dich an die keusche Brust,

doch wen ihre Gaben schmücken,

füllt das reine Herz Entzücken,

Seligkeit und Himmelslust!


Wohl dem edlen Erdensohne,

der ihr ewge Treue schwor,

denn der reinen Liebe Krone

reicht sie ihm zum schönen Lohne,

hebt zu Göttern ihn empor!


Ich auch habe sie gefunden,

mich auch schmückt ihr Rosenband,

meine Stirn hat sie umwunden

in der seligsten der Stunden,

als ich meine Molly fand!


Mich reizt nicht das Glück der Toren,

nicht der Wollust Vollgenuß,

Liebe, dich hab ich erkoren,

als ich Molly Treu geschworen,

bei der Holden ersten Kuß!
[63]

Weg da mit dem eiteln Ruhme,

feiler Wollust Knecht zu sein!

in der Liebe Heiligtume

blüht mir eine schönre Blume,

Molly, Molly, du bist mein!


Den 19ten Juli 1808


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 62-64.
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