Rangstreit

[163] Ich arme, kleine Rose,

Ich steh an ihrem Fenster

Und soll ihr Fenster schmücken,

Doch ach, die Augen aller

Sehn nur nach meiner Herrin,

Und keines sieht nach mir hin!


Bin ich denn nicht die Rose,

Die Königin der Blumen,

Warum denn schaut ihr mich nicht

Und schaut nur nach der Herrin?


Strahl ich nicht rötlich schimmernd,

Von Purpur übergossen? –

Zwar ihre zarten Wangen

Färbt Morgenrot, wie meine,

Und gern, wie gerne! tauscht ich!


Seht meine schlanken Stengel –

Zwar schlank ist sie wohl selber,

Und wer sie darf umfassen,

Gern mißt er meine Dornen.


Doch was gleicht meinen Knospen,

Im Westwind lieblich spielend?

Und doch – als sie am Fenster

Sich, niederschauend, beugte,

Gewahrt ich Zwillingsknöspchen,

Gleich meinen rund und härtlich,

Gleich meinen rötlich strahlend,

Gleich meinen halb geschlossen,

Gleich meinen leise wogend

Und strebend nach Enthüllung.
[163]

Doch seht im Blätterdunkel

Den vollen Kelch der Rose

Mit kleinem Laub umsäumet,

Vom Rande, voll und schwellend,

Nach Innen sanft sich wölbend,

In holder Scham errötend,

Ein Labyrinth von Blättern,

Die selber sich beschattend,

Gleich einer Grotte Dunkel,

Sich tief und immer tiefer

In Dämmernacht verlieren.


Wann saht ihr an der Herrin

Wohl einen Reiz gleich diesem?

Darin mag sie mir gleichen,

Dann will ich erst ihr weichen,

Dann reich ich ihr die Krone

Und nenne sie die Rose,

Ich sie, die Rose selber.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 163-164.
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