Sehnsucht nach Liebe

[21] Alles liebet, alles scherzet

In der fröhlichen Natur;

Alles küsset, alles herzet

Auf den Höhn, in Wald und Flur!


Läßt der holde Lenz sich nieder,

Sanft umschwärmt vom lauen West,

Senkt der Vogel sein Gefieder,

Bauet liebend sich ein Nest.


Und der Löwe flieht das Morden,

Das sonst höchste Lust ihm schafft;

Er verläßt der Brüder Horden,

Huldigt Amors Zauberkraft.


Und dir soll ich mich entziehen,

Die uns menschlich fühlen lehrt?

Liebe! ach, dich soll ich fliehen,

Die der Tieger selbst verehrt?
[21]

Ich allein nur soll dich meiden,

Holde Spenderin der Lust?

Ich soll wilde Tiere neiden

Um das Fühlen ihrer Brust?


Nein! dem schönsten aller Triebe

Sei mein fühlend Herz geweiht!

Schenke mir Themirens Liebe,

Amor, Gott der Zärtlichkeit!


Den 18ten Februar 1806


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 21-22.
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