14. Naturszene

[224] Das Wasser rinnt vom Felsgestein

Und furcht die moosge Bank,

Die Gräser, hellgrün, schmal und klein,

Sie stehn umher und saugens ein,

Gesättigt ohne Dank.

Und an die Blumen unterm Grün,

Wie Bürgerstöchter stolz,

In blau und rot und goldner Tracht,

Hat sich der Schmetterling gemacht;

Der saugt und küßt und schaukelt sich,

Und fliegt zuletzt davon,

So achtlos, daß am nächsten Tag

Er kaum noch mehr erkennen mag,

Wo er genossen schon.

Und drüber rauscht der Baum, als ob

Nichts unter ihm geschäh,

Nach rückwärts strebt der Fels empor,

Schaut gradaus in die Höh.

Die Wolken aber allzuhöchst

Ziehn hin mit Sturmsgewalt,

Sie weilen nicht, sie säumen nicht,

Rasch wechselnd die Gestalt.

Und durch das All voll Eigensucht

Geh ich mit finstrer Brust,

Vordem genoßner Treu und Lieb

Halb wie im Traum bewußt.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 224.
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