V. Die drey Königssöhne, ein Mährchen.

Vor uralten Zeiten lebte im Morgenlande ein König; der hatte drey Söhne. Aber die zwey ältesten waren schon in ihrer Kindheit gar ausgelassen und muthwillig, aber klug. Der jüngere hingegen war folgsam und gut, aber nicht so klug, als seine Brüder.

Als nun der älteste von den drey Königssöhnen achtzehn Jahre alt war, gab ihm sein Vater ein Pferd und ein Ritterkleid und ein Schwert, und ließ ihn ausziehen, die Welt zu sehen, und sich ritterlich zu erzeigen in fremden Landen. Und er ritt fort, und ritt weit und breit umher, und lebte ausschweifend und unordentlich, und kam nimmer heim, vergaß seinen Vater, und schickte nicht Nachricht von sich, wie es ihm ergangen sey.[115]

Und der zweyte von den Königssöhnen ward auch achtzehn Jahre alt, und sein Vater gab ihm auch ein Pferd, ein ritterliches Kleid und ein Schwert, und ließ ihn auch ausreiten in die Welt, um fremde Lande zu sehen und sich ritterlich darin zu erweisen, und nach seinem ältern Bruder zu forschen. Und er ritt fort und trieb's, wie sein Bruder, und kam nimmer heim, und schickte nicht Nachricht, wie es ihm ergangen sey.

Da ward der alte König traurig, und meynte, seine Söhne wären beyde todt, und härmte sich ab, und beklagte ihren Verlust. Aber als der dritte Sohn auch achtzehn Jahre alt war, da ging er eines Tags zu seinem Vater, und bat ihn, er möge doch ihm auch ein Pferd und Schwert geben, und ihn reiten lassen in die Welt, wie seine Brüder gethan hätten.

Da weint' aber der alte König, umarmte seinen Sohn und sprach: »Willst du mich auch verlassen, und mir verloren gehen, wie deine Brüder mir verloren sind? Nein, mein[116] einzig Kind, du mußt meine Stütze seyn in meinem Alter.« Und sein jüngster Sohn stand ab von seinem Bitten, obgleich er's ungern that.

Es stand aber an etliche Tag'; da hatte der alte König einen wunderbaren Traum. Er stand in seinem Garten, so war's ihm, da wüchsen zwey Ölbäume auf. Und sie waren im Anfange schön und schienen gesund. Aber bald fingen sie an zu trauern, und die Früchte fielen ab, und die Blätter wurden gelb, und die Zweige schienen dürr. Da wuchs schnell zwischen ihnen auf ein Palmbaum, und schoß hoch auf, und beschattete die kranken Ölbäume, und goß seinen Thau auf sie, und auch sie wurden wieder gesund und frisch.

Da ließ der König Morgens seine Traumdeuter und Weisen kommen, daß sie ihm den Traum auslegten. Und die Traumdeuter sagten: »Die zwey Ölbäume sind deine zwey ältesten Söhne, und der Palmbaum ist dein jüngster Sohn. Die zwey Ölbäume[117] wurden bald dürr, so werden deine zwey ältesten Söhne bald zu Grunde gehen; aber den Palmbaum, deinen jüngsten Sohn, mußt du ziehen lassen, daß er seinen Brüdern beystehe, sonst sind sie für dich verloren.«

Als der König das hörte, gab er seinem jüngsten Sohn ein Pferd und Schwert, und ließ ihn mit Thränen von sich.


Aber der jüngste Königssohn zog aus in die Welt, und ritt weit umher, und ihm war es wohl im Freyen, und sah viel Land und Leute, und erwieß sich überall, wo er herbergete, als ein braver Rittersmann. Und kam so weit fort in ferne, ferne Länder. Es geschah aber eines Abends, da kam er in einen dichten Wald, und fand keinen Ausgang. Wie er so ritt, siehe, da standen zwey Männer am Wege, und wie er sie[118] fragt', wo der Weg hinginge aus dem Walde, da erkannt er seine ältern Brüder, und freute sich über sie. Sie aber fingen an zu schelten und sagten: »Können wir, die wir klüger sind, kaum durch die Welt uns schlagen, wie willst du durchkommen, der du einfältig bist.« Denn die ältern Königssöhne waren klüger für die Welt, dem jüngern aber fehlte die Weltklugheit.

Jetzt ward es Abend; nur selten fiel am Abhange des Bergwaldes ein Strahl der scheidenden Sonne durch die Fichtenstämme. Da beriethen die drey Königssöhne, welchen Weg sie einschlagen wollten, daß sie eine Herberge fänden. Und sie wendeten sich nach der Höhe des Berges, ob sie von oben nicht ein Haus, oder nur ein freyes Feld erblickten. Da kamen sie vobey an einem Ameisenhaufen. Den wollten die ältesten Brüder zerwühlen, daß sie sehen könnten, wie die Thierlein ihre Eyer herumschleppten. Aber der jüngste Bruder stieg von seinem Pferd, und wehrte ihnen, daß sie's nicht thäten.[119] Und als sie vorbeygingen, da redete ihn der Ameisenkönig an, und sprach: »Wer du auch seyn magst, Fremdling, ich danke dir, daß du deinen Reisegefährten wehrtest, und so grosses Unglück von uns armen Thierlein abwendetest. Wenn ich dir nützen kann, so komm, und du sollst sehen, daß ich dir alles mit Freuden thue.«

Und sie gingen weiter, und kamen an einen See, der war bedeckt mit einem ganzen Schwarm Enten. Da wollten die ältesten Brüder drüber her, und sich einige erlegen, daß sie ein Abendessen hätten. Da wehrte aber der jüngste Bruder und sagte: »Laßt die armen Thiere. Wir werden doch diesen Abend etwas zu essen haben.« Und sie liessen die Enten in Ruhe. Als sie aber vorbey gingen, schwamm der König der Enten herzu, und dankte dem jüngsten Königssohn, und sagte: »Wenn ich dir in etwas dienen kann, so soll's mit Freuden geschehen.«

Darauf gingen sie weiter, und kamen an einen Eichbaum, darin die Bienen ihre[120] Zellen hatten; und es war so viel Honig drinnen, daß er am Stamm herunter trof. Als die zwey ältesten Königssöhne das sahen, wollten sie Feuer in die Baumhöhle machen, daß die Bienen umkämen, und daß sie den Honig fassen könnten. Da wehrte aber der jüngste wieder ab und sagte: »Laßt die armen Thierlein! bringt sie nicht um des Bißchen Honigs willen um.« Und sie wollten weiter ziehen, da flog die Bienenköniginn heraus, dankte ihm und sprach: »Kann ich dir mit etwas dienen, so befiehl nur, ich will's mit Freuden thun.«

So gingen sie weiter, und kamen in ein altes Schloß, und wollten da herbergen. Das Schloß war aber ganz wundersam gebaut, und nichts Lebendiges war drinn. Sie gingen ein durch das Thor, und der jüngste führte sein Pferd in einen Stall; da standen lauter steinerne Pferde. Sie gingen die Stufen hinauf, da kamen sie in einen Vorplatz, der war mit Marmor geplattet, und hohe Säulen bildeten die drey Eingänge.[121] Den einen bildeten silberne Säulen, den andern bildeten goldne Säulen, und den dritten Eingang bildeten gar diamantene Säulen. Und sie gingen ein durch den ersten Eingang, und kamen in eine Reyhe Zimmer, darinn alles, Wände und Geräthschaften, von getriebenem Silber war. Aber sie gingen durch alle Zimmer, und fanden am Ende eine Thüre, die verschlossen war durch drey Schlösser. Aber durch ein Lädlein konnte man hinein sehen in das Gemach. Und drinnen am Tische saß ein alt eisgrau Männlein, dem der Bart ging bis auf die Füsse. Diesem riefen sie zu, aber es hörte nicht. Sie riefen ihm zum zweytenmahl, aber es hörte nicht; und sie riefen ihm zum drittenmahl, da stand es auf, und kam heraus, und empfing sie freundlich, und bewirthete sie den Abend auf's allerbeste, und wieß ihnen weiche Betten mit seidenen Vorhängen zu Schlafstätten an. Aber es sprach kein Wort, und antwortete auf keine ihrer Fragen. Doch die drey Königssöhne hatten sich's wohl behagen[122] lassen, daß sie in eine so gute Herberge gekommen waren.

Als sie aber am andern Morgen erwachten, lag jeder zwar in einem schönen Zimmer, aber alles war so verschlossen, daß keiner von ihnen herauskommen konnte; und bey dem ältesten stand das eisgraue Männlein mit dem langen Barte, und winkte ihm, daß er ihm folge. Dieser folgte ihm aber ganz ängstlich, und sie gingen ein durch den goldenen Eingang, und kamen in einen grossen geräumigen Saal, darinn alles von getriebenem Golde gearbeitet war. Und der Alte wieß mit seinem schwarzen Stab über die Thüre; da standen die Worte: »Jeder Fremdling, der die Schwelle dieses Schlosses betrit, muß es versuchen, drey Arbeiten zu vollbringen. Wenn er diese glücklich ausführt, so ist sein Glück auf immer gegründet; voll bringt er sie nicht, so mag er als Stein bis zur Stunde der Erlösung harren auf dem Flecken, wo[123] ihn der letzte Strahl der Abendsonne bescheint.«

Als der älteste Königssohn diese Worte gelesen, begehrte er die erste der Arbeiten zu wissen, und stand zwischen Furcht und Hoffnung, ob er sie wohl vollbringen könnte.

Da berührte das Männlein mit seinem Stabe die Wand, und es sprang eine Thüre auf, und der Königssohn sah ein Gemählde, das stellte die Gegend dar, wo der Ameisenkönig seinen jüngsten Bruder angeredet hatte. Und darunter standen die Worte: »Drey tausend Perlen, der Hauptschmuck der Prinzessinn Pyrola und ihrer zwey Schwestern, liegen hier im Moose zerstreut. Diese hast du zu sammeln, daß auch die lezte nicht fehlet.«

Aber der Königssohn erkannte die Gegend, und eilte hinaus, und sammelte eifrig. Aber Mittag kam, und er hatte nicht hundert beysammen, die Sonne ging unter, da hatte er noch nicht dreyhundert gesammelt;[124] und der lezte Sonnenstrahl traf ihn, da sank er nieder, und war Stein.

Den andern Morgen stand das graue Männlein beym zweyten Königssohn, und winkte ihm mit seinem schwarzen Stabe, daß er ihm folge, und er folgte ihm. Und das Männlein zeigte ihm auch die Überschrift über der Thüre im goldenen Saale, und zeigte ihm das Gemählde. Da eilte der zweyte Bruder auch hinaus, und sammelte emsig, und sammelte bis an den Abend; aber er hatte keine drey hundert der kleinen Perlen beysammen, da ging die Sonne unter, und er sank nieder, und war ein Stein, wie sein Bruder.

Nun kam der dritte Morgen. Da stand das eisgraue Männlein bey dem jüngsten Königssohn, und führte auch ihn in den Saal, und ließ ihn die Schrift lesen über der Thüre, und zeigte ihm das Gemählde, und winkte ihm hinaus zu gehen, weil er traurig da stand. Da ging der dritte Königssohn hinaus, und sah die kleinen, kleinen[125] Perlen so weit zerstreut und im Moose versteckt; und als er das sah, und merkte, daß es unmöglich sey, sie zu sammeln, bis auf die lezte, da setzte er sich hin, und weinte bitterlich, und beklagte seinen armen Vater, der jetzt alle seine Kinder verloren habe. Und wie er so weinte, und wehklagte, da hörte er eine Stimme ihm rufen: »Warum weinst du lieber Fremdling?« Da sah er auf, und erblickte den Ameisenkönig, und klagte dem seine Noth.

Der Ameisenkönig aber sprach: »Ist es weiter nichts? o dann sey nur ruhig, dann soll dir bald geholfen seyn.« Als er dieß gesagt, ging er in den Ameisenhaufen, und kam bald mit mehr denn fünftausend Ameisen hervor, und alle sammelten an den Perlen, und zählten sie dem Königssohn in den Hut; und als er sie alle hatte, bis auf die lezte, da sprach der Ameisenkönig: »Gehe hin, du hast sie alle! und danke mir nur gar nicht, denn du hast noch mehr verdient, als diesen kleinen Gefallen.«[126]

Da lief der jüngste Königssohn hinein in das Schloß, und brachte dem Männlein die Perlen. Und das eisgraue Männlein erstaunte darüber; und führte ihn wieder in den goldenen Saal und berührte eine andere Wand. Diese that sich wieder auf, und es stellte sich ein Gemählde dar, das den See bedeutete, worauf der Entenschwarm sich aufhielt, und darunter standen die Worte: »In der Tiefe des Sees liegt der Schlüssel zu dem Schlafgemach der Prinzessin Pyrola, und ihrer zwey ältern Schwestern. Du mußt ihn gefunden haben, ehe die Sonne niedergehet.«

Und der Königssohn erkannte den See, und eilte hinaus, und kleidete sich aus, um hinein zu baden und den Schlüssel zu suchen. Doch wie er hineinsteigen wollte, da schwamm der König der Enten zu ihm her, und fragte: »Was begehrst du lieber Fremdling?« Da sagte der Königssohn, was er in dem See suchen wollte. Aber der Entenkönig antwortete:[127] »Der See ist für dich zu tief: laß mich für den verlorenen Schlüssel sorgen.« Und er befahl allen Enten unterzutauchen, und den Schlüssel zu suchen, und sie tauchten unter und gleich brachte eine den verlorenen goldenen Schlüssel in ihrem Schnabel herzu, und der Entenkönig überreichte ihn dem Königssohn und sprach: »Nimm ihn hin, und danke nicht, du hast noch mehr um uns verdient, als diesen kleinen Gefallen.«

Er eilte sich aber, und brachte den Schlüssel dem eisgrauen Männlein, und kaum hatte es den Schlüssel in Händen, da bekam es seine Sprache wieder, und dankte dem Königssohne mit Freudethränen, und sprach: »Schon zweytausend Jahre muß ich hier lebendig, aber stumm, sitzen in diesem Schlosse, und auf Erlösung harren. Nun hast du glücklicher Fremdling nur noch ein Geschäft, aber das schwerste, dann ist dein Glück gegründet.«[128]

Da fragte der jüngste Königssohn, was das wäre. »Drey Töchter habe ich,« sprach das graue Männlein, »Ich bin der König von diesem verzauberten Schloß und Lande. Diese drey Töchter sind mir von ihrer eigenen Mutter, die eine böse Fee war, verzaubert, und liegen nun seit zwey tausend Jahren in einem todtenähnlichen Schlafe. Die älteste, Rubia genannt, verzauberte sie durch ein Stück Zucker; die zweyte, Briza genannt, durch einen Syrup; aber meine jüngste Tochter, Pyrola, durch einen Löffel voll Honig. Eine meiner Töchter sieht der andern völlig gleich, und alle scheinen von gleichem Alter; aber Pyrola, meine jüngste Tochter, ist mir besonders lieb. Und gerade an ihr muß die Erlösung geschehen; an ihrem Hauche muß man erkennen, welche von den dreyen den Honig gegessen, ob gleich seit dem zweytausend Jahre verstrichen sind.«

Als er dieses gesagt, führte der unglückliche König den Königssohn heraus, und[129] schloß die dritte Säulenpforte auf. Da waren alle Zimmer mit edeln Steinen von allen Farben geziert; Wohlgerüche und sanfte Töne schwebten aus dem Hintergrunde hervor; Kühlung wehte ihnen entgegen; und in einer Bettstätte, die mit Laubwerk von grünen und farbigen Edelsteinen umgeben war, lagen in dem höchsten, mittelsten Saale, wie todte Marmorbilder Rubia, Briza und Pyrola, alle drey von ausnehmender aber gleicher Schönheit. Die Pracht des Saales und die Schönheit der Prinzessinnen, die Musik und die Wohlgerüche betäubten ihn ganz, daß er nicht mehr wußte, was er da thun sollte, bis ihn der König des Schlosses daran erinnerte, und sprach: »Die Sonne steht im Mittage. Wenn sie niedergeht, und du hast noch nicht erkannt, welche die jüngste ist, so trifft dich gleiches Schicksal, wie deine Brüder, und ich muß wieder stumm sitzen, wie vorher, bis sich wieder ein anderer Fremdling hierher verirrt. Erkennst du aber, ohne zu rathen,[130] meine Tochter Pyrola, so ist sie deine Gemahlinn, und du erbst mein Reich.«

Der jüngste Königssohn aber eilte hinaus, und jammerte und weinte, und der Wald hallte wieder von seinen Klagen. Und wie er so klagte und jammerte, hörte er eine Stimme ihm rufen, und zu ihm sagen: »Was klagst du lieber Fremdling?« Da sah er auf, und erkannte die Bienenköniginn auf dem Baumstamme sitzen. »Ach!« sagte er, »wie kann ich das erkennen, welche von drey Prinzessinnen vor zwey tausend Jahren Honig gegessen hat?«

»Was?« fragte die Bienenköniginn, »ist es weiter nichts? Wie magst du darum auch so klagen? Ich will dir eine Biene mitgeben, die soll um alle herum fliegen, aber die ist es, der sie sich auf die Lippen setzt.« Darauf ging die Königinn hinein in die Höhle, und eine Biene flog heraus, und setzte sich ihm auf die Schulter, und er trug sie in den Saal zu den schlafenden Königstöchtern. Da flog sie zu allen, und schwärmte[131] herüber und hinüber, und setzte sich endlich auf den Mund der mittelsten.

Da sprach der Königssohn zu dem eisgrauen Könige: »Die mittelste ist Pyrola, deine jüngste Tochter.« Und kaum hatte er das gesagt, da krachte und donnerte und blitzte es, als wollte die Erde zusammenstürzen; und alles war verändert: das kleine graue Männlein stand da als ein würdevoller, majestätischer alter König; die Prinzessinnen standen in blühender Schönheit da, und umarmten ihren Vater, und die jüngste, Pyrola, kam herzu und dankte ihrem Erretter, dem jungen Königssohne; und der junge Königssohn umarmte sie, und nannte sie seine Braut; Diener gingen aus und ein; im Schloßhofe war ein Pferdegetrappel; sie gingen an's Fenster, da war um sie nicht mehr die alte Wildniß; eine prächtige Stadt stand da, und weiterhin sah man auch fruchtbare Felder, und viele glückliche Fluren und Dörfer; und in den Strassen war ein Gewühl und alles ging so ordentlich, als[132] wäre da gar kein Wunder geschehen, als wäre alles beym Alten; niemand schien davon etwas zu wissen.

Auch in den Saal kamen einige Diener. Da ließ der König den Königssohn nehmen und seine Tochter Pyrola, und ließ sie setzen in eine prächtige offene Kutsche, vor die er zwölf Schimmel spannen ließ, und vier und zwanzig Männer in Purpur und Gold gekleidet ließ er vorausreiten mit Posaunen, und ließ den Königssohn und seine Tochter Pyrola ausrufen als König und Königinn des Landes. Darauf wurde ein köstlich Gastmahl gehalten, wobey es an nichts fehlte, was den Tag verherrlichen konnte. Und wie sie so da sassen in grossem Jubel, liessen sich zwey fremde Ritter melden. Man ließ sie ein, und siehe da! es waren des jungen Königs Brüder. Und abermahls wurde ein Fremdling gemeldet, und als er hervortrat, da sprangen die drey Königssöhne von ihren Sitzen und bewillkommten ihn mit Freudengeschrey. Es war ihr Vater. Er hatte sich aufgemacht, seine verlorenen[133] Söhne zu suchen, und war eben in dieser Stadt angekommen.

Drey Monate blieb der Vater der Königssöhne da, und so lang er da war, dauerten die Feste, wovon immer eines das andere an Pracht übertraf. Dann zog er mit seinen zwey ältesten Söhnen heim. Sie sollen sich von ihren ehemahligen Fehlern gebessert, und in des alten Königs Reich getheilt haben. Auch soll der älteste die Prinzessinn Rubia, der zweyte die Prinzessinn Briza zur Gemahlin genommen, und beyde sollen lange und glücklich regiert haben.

Der jüngste aber und Pyrola wurden noch über hundert Jahre alt, und beglückten ihre Unterthanen. Ein fremder König regierte nach ihm auf seinem Throne, und durch ihn wurden die Menschen wieder so verschlimmert, daß eine grosse Sündfluth über das Land kam. Und seitdem ist jenes Land, das Land der Mährchen, versunken, und nur noch diese Sage ist von ihm übrig geblieben.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809], S. 112-134.
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