4.

[164] Der Königssohn hatte einen wunderbaren Traum. Ihm war, er sehe die Königinn Tellus, wie er sie gesehen hatte in ihrem Reiche. Aber in ihrer Krone trug sie den Stein Opal. Da däucht es ihn, der Stein Opal falle heraus, und er ging hin, und hob ihn auf. Da welkte plötzlich die Königinn Tellus zusammen, und sank nieder, und die Erde that sich auf, und sie sank unter, und Blumen und Rasen wuchsen drüber her. Aber aus dem Rasen erhob plötzlich eine Lilie, weisser, als der Schnee, ihr reines Haupt, und blühete in ungewöhnlicher Fülle.

Aus diesem Traume erwachte der Jüngling. Aber wie erstaunte er? Er saß auf dem Throne seines Vaters, bey ihm saßen seine drey Schwestern, Wara, Nossa und Gefione, und vor ihn trat sein Lehrer, der alte Weise, und reichte ihm den Stein Opal, aus welchem die Lilie hervorwuchs, die er im Traume gesehen hatte.[165]

Als aber der junge König den Stein und die köstliche Lilie berührte, da schwoll die Blume auf, und ward größer mit jedem Augenblick, es öffnete sich ihr Kelch, und aus ihm trat hervor in wundervoller Schönheit Tellus, die Königinn.

»Sie sey deine Gemahlinn!« sagte der Weise, »Sie ist meine Tochter, sey du mein Sohn.« Und Nossa kam und schwang ihre Blumenkränze ihnen um das Haupt, einen dem Könige, ihrem Bruder, und den andern der Königinn, ihrer neuen Schwester. Und das Volk hörte von der Wiederkunft seines Königs und von seiner Vermählung, und kam nun mit Jauchzen und Jubel, ihnen zu huldigen.

Aber die Wunderlilie, die sich wieder geschlossen hatte, und den Stein Opal hob der König wohl auf, und gründete mit seiner Gemahlinn ein Reich des Seegens und des Glückes. Er brachte die Güter und Schätze der Erde über seine Unterthanen; sie brachte das Glück des Himmels und[166] seine Güter auf sie hernieder. Aber die drey Königstöchter wandelten umher in dem Lande, und vertheilten die köstlichen Gaben unter die Menschen, und erschienen überall als gute, wohlthätige Engel.

Der Weise aber hatte seine Frau, die Mutter der Perlen, gesucht, und sie pflanzten miteinander den Zweig der seltsamen Pflanze, den der Jüngling mitgebracht hatte; und der Zweig wuchs auf, als ein Palmbaum an ihrem Schlosse, und brachte Frieden über das glückliche Land, und seine Blätter sangen Zufriedenheit in die Gemüther der Vorübergehenden.


Es ist aber untergangen dieses seelige Reich. Wie lang es gedauert – – niemand weiß es. –

Der Stein Opal ging wieder verloren. Aber Mächtige dieser Erde sollen ihn manchmahl wieder gefunden haben. –[167]

Die Lilie ist verloren gegangen. – Vielleicht, daß sie von einer stillen, tief ahnenden Seele wieder gefunden wird! Es ist aber nicht zu hoffen, daß je wieder die Lilie so schön verbunden werde mit dem Stein Opal, als sie es war in jenem Reiche.

Die drey Königstöchter, Wara, Nossa und Gefione aber wandeln immer noch um in dem Reiche, aber nur in wenige Hütten treten sie ein.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809], S. 164-168.
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