5. Der Fuchs und der Hahn.

[185] In einer kalten Winternacht war ein hungeriger Fuchs nach Speise ausgegangen, und hörte einen Hahn krähen auf einem Baume bey einem Mayerhofe. Da dachte er den mit List zu fahen, denn auf den Baum getrauete er sich nicht zu steigen. Und er stellte sich unter den Baum und fragte: »Ey Hahn, wie magst du so schön singen in dieser kalten Winternacht?«

»Ich verkünde den Tag,« antwortete der Hahn.

»Was, den Tag?« fragte der Fuchs verwundert, »es ist ja noch ganz finstre Nacht!«[186]

»Ey,« erwiederte der Hahn, »weißt du denn nicht, daß wir Hahnen eine ganz besondere Natur haben. Wir fühlen es schon zum voraus, wenn der Tag nahe ist, und verkünden seine Nähe dann.«

»Das ist gar etwas Göttliches,« rief der Fuchs, »das können nur Propheten! O Hahn, wie muß ich dich bewundern und deinen Gesang.«

Nun krähete der Hahn zum andernmahl. Da fing der Fuchs an zu tanzen.

Und der Hahn fragte ihn: »Warum tanzest du denn?«

Der Fuchs antwortete: »Du singst ein fröhliches Lied, und ich tanze vor Freude; man soll sich ja freuen mit den Fröhlichen. O Hahn du bist der Fürst der Vögel! du fliegst durch die Lüfte; du singst so schön, wie kein Vogel ausser dir; du sagst gar künftige Dinge voraus; und ich sollte mich nicht freuen, daß ich einen so weisen Propheten habe kennen lernen? Wär' ich nur würdig immer um dich zu seyn.[187] Du königlicher Vogel, du weiser Prophet! Komm doch herunter, daß ich dich nur einmahl küsse; daß ich mich bey meinen Freunden rühmen kann, ich habe das Haupt eines Propheten geküßt!«

Und dem Hahne gefiel dieß Lob so wohl, daß er sogleich vom Baum herab flog, und dem Schmeichler, dem Fuchse, sein Haupt darbot.

Aber der Fuchs faßte ihn mit seinen Pfoten, und rief spottend: »Nein, nein, du bist kein weiser Prophet. Ich sehe, daß du nicht voraus sehen kanst, sonst hättest du auch gemerkt, daß ich dich nicht küssen wollte. Aber ich habe dich dennoch gar lieb.«

Und damit biß er ihm den Kopf vom Rumpfe und speißte ihn.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809], S. 185-188.
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