6. Die Goldfischlein.

[188] Es wohnten drey Goldfischlein mit ihrer Mutter in einem steinigen Wasser; die Sträucher beugten sich drüber her und das Plätzchen war immer düster und kühl. Aber weiter unten glänzte die Sonne golden auf die Spiegelfläche des Baches. Und eines Tages sprachen die Fischlein zu ihrer Mutter: »Ey Mutter! warum bleiben wir denn immer hier und gehen nie dort hinunter, wo die Sonne so schön abglänzt auf dem Wasser? Vielleicht ist dort unten schöner sandiger Boden. Warum müssen wir uns immer hier unter den Steinen verborgen halten, wo die Sonne nie her scheint? Dort unten muß ja so schön seyn!«[189]

Da antwortete die Mutter der Goldfischlein: »Es ist nicht alles, wie es scheint. Jener Platz dort unten scheint lustig und gut; man kann sich hübsch sonnen auf den kleinen Wellen, und auf dem Grunde findet sich manches gute Würmlein. Aber unter dem ausgehöhleten Uferrande wohnt ein grosser gefrässiger Fisch, vor dem kein kleinerer Fisch sicher ist. Darum gehen wir nicht hinunter an den schönen sonnigen Platz.«

Eines Tages ging aber die Mutter der Fischlein aus, um Speise zu suchen. Aber beym Fortgehen warnte sie noch die Fischlein, und sprach: »Gehe mir ja keines hervor aus unsern Steinen, ehe ich wieder bey euch bin, daß ihr nicht Schaden nehmet.«

Und die Fischlein versprachens, recht folgsam zu seyn, und gar nicht hervor zu gucken.

Da die Mutter aber fort war, und eine Weile ausblieb, sprach das älteste der Fischlein: »Mütterchen bleibt so gar lange, und wir sollen immer da unten sitzen, hinter den schlammigen Steinen. Was thuts denn,[190] wenn wir ein bißchen höher in's Wasser steigen? bey uns ist ja kein gefrässiger Fisch, vor dem wir uns zu fürchten hätten.«

Aber die andern wollten nicht, und sprachen: »Was würde die Mutter sagen, wenn sie käme und uns oben anträfe?« »Ey,« sprach das Fischlein dagegen, »Mutter ist weg. Mütterchen sieht's nicht; und wenn sie kommt, so stecken wir uns wieder hinter unsre Steine, ehe sie es gewahr wird, daß wir oben waren.« Und mit diesen Worten tauchte es hervor und schwamm auf der Fläche; und es war ihm wohl, und rief seinem jüngern Bruder und seinem Schwesterchen. Da stieg das Brüderchen auch aufwärts auf die Oberfläche des Wassers; und sie spielten munter auf den krausen Wellchen. Das Schwesterchen der Goldfischlein aber war folgsam, und blieb unten hinter den Steinen versteckt.

Wie aber die beyden Brüderchen so spielten, sahe das jüngste hinab, auf dem Strome, wo die Sonne sich spiegelte in dem Wasser;[191] und sagte zu seinem ältern Brüderchen: »Sieh wie sich dort unten die Sonne so schön spiegelt!« Und das ältere Goldfischlein sprach: »Jetzt ist's doch eins; wir haben jetzt doch der Mutter Gebot übertreten, und sind hervor gegangen aus unsrer Wohnung, laß uns lieber auch noch dort hinab gehen, nur einen Augenblick! Der grosse Fisch wird uns nicht gerade sehen.«

Aber das jüngere Fischlein wollte nicht, und das andere schwamm allein hinab und spielte auf den goldschimmernden Wellen. Da schoß der grosse gefrässige Fisch, ein Hecht, hervor, und verschluckte es.

Als nun die Mutter nach Hause kam und ihr grösseres Söhnlein nicht antraf, ward sie betrübt und weinte um es, und gebot nochmahls den beyden andern Goldfischchen, ja nicht hervor zu gehen aus ihrer Steinhöhle.

Da sie aber einst wieder ausging, dachte das Goldfischlein, welches schon einmahl mit dem andern auf der Oberfläche des Wassers war, es wolle sich wieder das Vergnügen[192] machen, und auf den Wellen herum spielen. Da sprach es zu seinem Schwesterchen: »Komm', steig' mit mir auf die Höhe des Wassers, und laß uns da herum schwimmen und spielen.«

Aber das Schwesterchen sagte: »Denkst du nicht mehr daran, wie der Hecht unser anderes Brüderchen gefressen hat, daß es nicht mehr heim kam?« Das Brüderchen antwortete: »Ey wir gehen nicht gerade hinunter wo der gräßliche Fresser wohnt; wir bleiben hier oben:« »Nein,« versetzte das andere Goldfischlein, »ich gehe nicht. Wenn auch der gefrässige Fisch nicht da wohnt, so hat es doch unsere Mutter verboten.«

Das Brüderchen aber hörte nicht, und stieg hinauf auf die Fläche des Wassers und spielte herum; und indem es spielte, ward es ein gutes Würmlein gewahr, das im Wasser schwebte; und es schnappte darnach und verschluckte es zusamt der Angel, an die es der listige Fischer gesteckt hatte. Und es wollte sich wieder los machen, aber der[193] Fischer, der in dem Gebüsche stand, merkt' es, daß er etwas gefangen habe, zog seine Angel heraus und nahm das Goldfischlein zu den andern, die er gefangen hatte.

Als aber die Mutter wieder nach Hause kam, sah sie von ferne schon den Fischer und fürchtete gleich, er möchte eines ihrer Kleinen gefangen haben, und tauchte unter und vernahm mit Trauern von dem übrig gebliebenen Goldfischlein, wie das Brüderchen hinauf geschwommen sey auf die Oberfläche des Wassers.

Aber ihr einziges Kindlein liebte sie nun dreyfach so sehr, als sie es vorher geliebt hatte. Und sie zog mit ihm das Bächlein weiter hinauf, wo auch die Sonne hinein strahlte, und pflegte es mit doppelter Sorgfalt, weil sie wußte, daß es folgsam war, und die Sorge und Pflege schon in der Jugend durch Achtsamkeit und Gehorsam gegen seine Mutter belohnte.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809], S. 188-194.
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