5.

[63] Aber die Freude des alten Königs währte nicht lange. Denn Brunnenhold half ihm zwar in seinen Regierungsgeschäften, wo er konnte, und zeigte sich so mild gegen die Unterthanen, daß alles Volk ihn lieb gewann. Aber als ein guter Waidmann trieb er auch gern bisweilen das Waidwerk, und jagte mit seinen treuen Thieren in den herrlichen Forsten des Reiches, und kehrte oft erst des andern Tages zurück zu seiner Gemahlin. So geschah es auch eines Tages, daß er Abschied nahm von ihr, und versprach, noch desselbigen Tages wieder zu kommen. Er jagte aber lange, und schickte seine Thiere aus nach allen Richtungen. Aber[63] wie oft er sie auch von sich schickte rechts und links, und dahin und dorthin, so kehrten sie doch diesmal immer wieder, und brachten nichts mit sich. Endlich geschahs, als er schon heimkehren wollte, und sich umschaute, wohin er seinen Weg nehmen müsse, daß er durchs Gebüsch eine Hirschkuh erblickte, die war weiß, wie der Schnee. Da verlangte ihn, diese Seltenheit zu erlegen, und schickte seinen Löwen nach ihr, und ging selbst nach ihr. Aber der Löwe konnte sie nicht erreichen, und er selbst mühete sich vergebens. Wenn er sie auch erreicht zu haben meinte, so war sie wieder auf einmal ferne von ihm, daß er sie kaum noch erblickte. Und wenn er sie oft ganz aus den Augen verloren hatte, und sich eben zur Heimkehr anschickte, so erschien sie ihm wieder ganz in der Nähe. Und so verlockte sie ihn weit ab, weit ab, bis er gar nicht mehr die Gegend kannte, da er war, und bis die Sonne sank und ihm hinter fernen unbekannten Bergen unterging.

Da sah er sie auf einmal mitten im Walde auf einem weiten Platze, drauf viele frische Kräuter wuchsen, und den ein klarer Quell durchfloß. Und er sah um sich, und bemerkte, daß es schon spät sei, denn der Mond stand schon hoch am Himmel, und er beschloß die Nacht auf dem schönen Platze hin zu bringen. Darum machte er sich ein Feuer an, und steckte zu beiden Seiten einen Ast in den Rasen,[64] der sich oben in zwei Aestlein theilte, und legte oben drüber einen Stock, als einen Bratspieß. Dann schickte er seinen Löwen aus, und der Löwe brachte ihm alsbald einen Hasen zurück, den er abstreifte und an seinen Bratspieß steckte. Dann setzte er sich zu ihm, und schürte das Feuer, und drehte den Braten, und pfiff ein Jagdliedlein nach Waidmanns Gebrauch auf einem Blatte; und um ihn lagen seine Thiere, sein Löwe, sein Bär und sein Wolf, und ruheten und schmeichelten bisweilen ihrem Herrn.

Aber er saß nicht lange, und sein Hase war noch nicht gebraten, und sein Liedlein war noch nicht ausgepfiffen, – da kam ein altes, eisgraues Mütterlein aus dem Walde, das ging ganz vorwärtsgebückt, und stützte sich auf einen Dornstock, und hauchte in die dürren Hände, und sagte immer laut für sich mit zitternder Stimme: Schuck, schuck, wie friert michs! »Schuck, schuck, wie friert michs!«

Sie ging aber nicht näher hinzu an das Feuer, sondern ging in weiten Kreisen um Brunnenhold und seine Thiere, die um das Feuer herlagen, und sagte mit immer lauterer Stimme: »Schuck, schuck, wie friert michs! Schuck, schuck, wie friert michs!« Da fing Brunnenhold an zu lachen, und rief ihr zu: »Ei, närrisches Mütterlein! warum gehst du nicht her an's Feuer, wenn dich friert? Da kannst du dich ja wärmen.«[65]

Aber das alte Mütterlein mit dem krummen Rücken und den dürren Händen wollte nicht hingehn zum Feuer, sondern sprach: »Nein, junger Herr, ich will lieber erfrieren in der kalten Nacht, als mich zwischen Euch und Eure Thiere setzen.«

Brunnenhold zeigte ihr aber, daß seine Thiere zahm wären, und sprach: »Setz dich nur her, sie thun dir nichts.«

»Ja,« sagte das Mütterlein, »ich wollt' es wohl wagen, aber zuvor müßt Ihr mir erlauben, daß ich Eure Thiere mit Einem Rüthlein schlage, sonst möcht' mich eins von ihnen beißen.«

Da ward Brunnenhold ungeduldig, und sagte: »Was! meine Thiere brauchen nicht geschlagen zu werden! sie thun dir nichts, setz' dich nur her.«

»Ach ja, Herr!« sprach das Mütterlein. »Laßt mich nur einen Streich jedwedem geben. Ich kann mich sonst nicht setzen; ich fürchte mich zu Tode. Laßt mich nur jedes mit der Ruthe sanft berühren.« Und indem sie das sprach, trat sie näher hinzu, und zog ein dünnes Rüthlein aus ihrem weiten Mantel, und sprach zu Brunnenhold: »Seht, das kann ja nicht weh thun. Ich will Eure Thiere auch nur damit berühren. Erbarmet Euch doch mein! Ich kann mich sonst nicht setzen, und erfriere dann in dieser kalten Nacht. Schuck, schuck, schuck, schuck! wie friert mich's!«[66]

Da erbarmte sich Brunnenhold ihrer, und dachte, er müsse ihrer Schwachheit nachsehen, weil sie sonst erfrieren möchte. Denn ihm dünkte selbst die Nacht sehr kühl, und sprach zu ihr: »Nun thöricht altes Weib! so rühr' sie an mit deiner Ruthe. Doch hüte dich, das sag' ich dir, – du darfst sie nur anrühren. Thust du einem weh, so jag' ich dich davon, und wenn du auch erfrieren mußt.«

»Ach nein!« antwortete die Alte ganz erfreut: »Du sollst es sehen, ich rühre sie nur an.« Und als sie das gesagt, ging sie um Brunnenhold und seine Thiere herum, und berührte die Thiere mit ihrem Rüthlein, und murmelte etliche Worte dabei. Aber als sie so jedes berührt hatte, berührte sie auch Brunnenhold. Da sank er mit seinen Thieren zusammen, und wurden alle, jedes ein glatter viereckschter Stein.

Da aber Brunnenhold am andern Abend nicht nach Hause kam, ward seine Gemahlin Helgrita sehr traurig. Und da er am dritten und vierten Abend noch nicht kam, so sandte sie Boten aus nach allen Forsten, in alle Gehege des Reiches, ihn zu suchen. Als aber die Boten nach zwei Tagen wieder kamen, und ihn nicht funden hatten, da sandte sie abermals Boten aus, im ganzen Lande umher. Aber sie kamen nach drei Monaten wieder, und hatten ihn alle nicht funden.[67]

Da beweinte sie ihren theuern Gemahl für todt, und legte Trauerkleider an, und trauerte um ihn in ihrem Herzen, und vergoß viele Thränen um ihn, und gab alle Hoffnung auf, ihn je wieder zu sehn. Denn sie glaubte seine Thiere möchten ihn selbst zerrissen haben oder er möchte in einem einsamen dichten Walde vom Felsen gestürzt sein, und hülflos seinen Geist aufgegeben haben.

Aber sie ließ fort und fort noch nach ihm suchen; denn sie hoffte, doch seine Gebeine noch zu finden, um ihnen ein ehrlich Begräbniß geben zu können.

Und der alte König trauerte mit ihr um seinen Eidam, als um einen gestorbenen Sohn.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Lina’s Mährchenbuch 1–2. Band 2, Grimma 21837, S. 63-68.
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