6.

[68] Brunnenstark war aber die Straße rechts gezogen, als er von seinem Bruder Brunnenhold sich schied am Kreuzwege. Und er war weit umhergezogen im Lande; und zog weiter, und weiter durch fremde Länder, und ward allem Volk wohlthätig, durch das er zog. Denn wo er hinkam, reinigte er das Land von Drachen und Lindwürmern, an die sich zuvor niemand getraut, daß der Hirte hinfort ruhig sein Vieh zur Weide führte, und der Landmann sorglos sein[68] Land bestellte. Aber nirgendwo hatte er Dank angenommen von den Königen und Fürsten, deren Reichen er wohlthätig war, und wiewohl ihm mancher König seine Tochter zur Gemahlin und sein Land zum Erbe geben wollte, so hatte er's doch nicht angenommen. Denn er sprach: »Ich werde Brunnenstark genannt, darum, daß ich stärker bin, als die übrigen Männer alle. So muß ich denn auch überall helfen allem Volke, wo die andern Menschen nicht zu helfen vermögen.«

Und so zog er umher fünf Jahre. Da lebten alle Völker fern und nah in guter Ruhe; denn alle Ungeheuer hatte er schon vertilgt allenthalben. Da dacht' er eines Tages bei sich selbst mit Verdruß daran, daß er nun nirgend mehr Arbeit fände, wohin er komme, und beschloß, jetzt doch einmal nachzusehen an jenem Scheidewege, da er von Brunnenhold gegangen war, ob die Messerlein noch in dem Stamme der Eiche steckten, und ob sein Bruder noch am Leben sei, und ob es ihm wohlgehe.

Und des andern Tages machte er sich auf von dannen, weit zurück, von wannen er gekommen war; und kam wieder an den Scheideweg, da er sich geschieden hatte von seinem Bruder. Als er aber von ferne kam, sah er schon hoch wehen den Wipfel der alten Eiche.[69]

Doch es überlief ihn kalt, als er sie betrachtete. Denn das Laub der einen Seite des Baumes war nicht mehr frischgrün, wie ehemals, sondern schien gelblich, als wollt' es ersterben. Und als er nun mit bangem Herzen hintrat, und seines Bruders Messerlein auszog aus dem Stamme, da traten ihm Thränen in die Augen, und kalt fiel's ihm auf's Herz, und warm lief's ihm wieder vom Herzen, denn das Messer war rostig über und über.

Da setzte er sich nieder in den Schatten der alten Eiche, und ihm war's trübe in seiner Seele, und war ihm leid, daß er nicht singen konnte, sonst hätt' er ein Lied gesungen, ein traurig Lied von dem Tode seines Bruders. Und er blieb da sitzen, bis es Abend ward und die Sonne unterging. Da seufzte er tief auf, und es fiel ihm eine Thräne aus jedem Auge, denn er gedachte bei sich: »So sanft und heiter, wie die Sonne, des Himmels Auge, eben so sanft und heiter waren auch die Augen meines geschiedenen Bruders, und sind jetzt geschlossen in Todesnacht.«

Und er blieb sitzen bis es Nacht war, und alles Leben entschlafen war, und starrte hinaus in die Dunkelheit des Nachthimmels, und dachte bei sich: »So still, wie die Nacht, ist's jetzt um Brunnenhold, und ist ewig still um ihn; und er hört nie mehr das muntre Leben sich um ihn regen.«[70]

Und er blieb sitzen bis am Morgen, bis die Sonne wieder herauf kam über die Berge. Da dachte er bei sich: »Der Himmel schließt sein fröhliches Auge wieder auf, aber Brunnenhold schlägt seine Augen nicht mehr auf am Morgen.«

Als aber seine Thiere erwacht waren, die er bei sich hatte, stellten sie sich auf und recketen sich aus. Und Brunnenstark stand auf mit ihnen unter der Eiche. Da kamen seine Thiere und schmiegten sich an ihn, mehr als sie sonst pflegten, und lenkten nach und nach in die Straße rechts von dem Scheideweg, und er folgete ihnen nach, denn er dachte nicht daran, was er that. Aber fortan zog er die Straße immer weiter und weiter, und immer weiter durch Feld und Flur, über Berg und Thal, und trieb das Jagdwesen heute hier, morgen dort. So kam er eines Tages in einen schönen Forst, und gewahrte durchs Gebüsch eine weiße Hirschin. Und er zog ihr nach mit seinen Thieren hierhin und dahin, und konnte sie nicht erlegen. Und verfolgte sie bis spät an dem Abend, bis die Sonne unterging, und die Sterne am Himmel hervortraten. Da gewahrte er sie zuletzt, daß sie zwischen zwei hohen Stämmen sich verlor. Und folgte ihr nach hinter die Stämme, und meinte sie da zu erlegen. Doch als er hineintrat zwischen die Stämme, – siehe! da lag vor ihm ein schöner grasiger Platz, rings vom Walde[71] umgeben. Aber die weiße Hirschin war schon verschwunden, ob er ihr gleich auf den Fersen gefolgt war. Da gab er's denn auch auf, sie zu erlegen, und beschloß, die Nacht hier zu bleiben unter freiem Himmel.

Darum sandte er jetzt seine Thiere aus, daß sie sich Futter suchten, und ihm auch etwas zum Abendmahl mitbrächten. Und als er jetzt hintrat, sich einen Ort auszusuchen, wo er ein Feuer anzünden könnte, sah er da liegen vier schöne, glatte, viereckichte Steine, und darzwischen sah er noch aufgestellt einen Waidmanns-Bratspieß, wie ihn der alte Waidmannn, sein Pflegvater und Lehrherr zu machen gepflegt, und daran hing noch ein ganzes Gerippe von einem Hasen, das war abgewaschen vom Regen und weiß gebleicht von dem Sonnenschein. Und er dachte daran, daß hier auch wohl ein Waidmann müßte gehauset haben. Aber der Ort gefiel ihm über die Maßen, und setzte sich auf einen der vier Steine, und zündete sich ein Feuer an. Und als seine Thiere wie der kamen, legte ihm der Löwe einen Hasen vor die Füße, dem streifte er den Balg ab, und machte ihn zurecht und steckte ihn an den Spieß, von dem er zuvor das weißgebleichte Gerippe abgeworfen.

So saß er denn, und harrete bis sein Hase gebraten wäre, und drehte den Bratspieß, und die Flammen leckten hinauf,[72] und flackerten fröhlich, und rings saßen die Thiere, und die nächsten schmeichelten bisweilen ihrem Herrn.

Er saß aber nicht sehr lang, da kam ein altes Mütterlein aus dem Walde, das ging ganz krummgebückt an seinem Stabe, und hauchte in die dürren Hände, und sagte immer: »Schuck, schuck wie friert mich's! Schuck, schuck, wie friert mich's.« Als sie aber näher kam, und Brunnenstark hörte, daß sie sagte: »Schuck, schuck, wie friert mich's!« da rief er ihr zu: »Ei, bist du denn blind, daß du nicht siehst, daß hier ein helles Feuer brennt? Wenn dich friert, so komm her, und setz' dich ans Feuer, und wärme dich!«

Aber das alte Mütterlein sagte: »Ach nein, das thue ich nicht, denn ich fürchte mich vor Euerm Gethier, das Ihr um Euch liegen habt.«

»Ach, setz dich nur!« sagte Brunnenstark, »die Thiere thun dir nichts, sie sind zahm.«

Da sing die Alte wieder an: »Schuck, schuck, wie friert mich's!« und zog ihr Rüthlein hervor, und trat etwas näher hinzu, und sprach: »Ach, edler junger Herr, erlaubt mir doch, daß ich jedem Eurer Thiere einen Streich gebe mit meinem Rüthlein, daß ich mich nicht ferner vor ihnen fürchten muß, und mich zu Euch setze zum Feuer, um mich zu wärmen.« Aber Brunnenstark ward unwillig,[73] und sprach: »Wenn du willst, so magst du gehen. Schlagen laß ich meine Thiere nicht.«

Da sprach das gebückte Mütterlein: »Ich will sie nur berühren, ich thue keinem weh.« Und eben wollte sie den Löwen mit dem Rüthlein schon berühren, da sprang Brunnenstark von seinem Sitze auf, und sprach: »Bleib' mir vom Leibe und meinen Thieren auch mit deiner Ruthe. Mir wird ganz unheimlich zu Muthe, seit du nahe bist. Was haben dir die Thiere denn gethan?«

Da sagte sie wieder mit zitternder Stimme: »Schuck, schuck, schuck, schuck, wie friert mich's!« und das Kinn wackelte ihr dabei. »Ach Herr, erbarmt Euch mein, ich erfriere ja.«

Brunnenstark aber ward böse, und trat zu ihr und sprach: »Ja, ich will mich dein erbarmen; du sollst nicht mehr lange frieren!« Und er packte sie bei diesen Worten, und setzte sie auf einen der Steine, und nahm die Ketten seiner Thiere, und umschlang sie mit denselben, und band sie so an dem Steine fest, und sagte: »Jetzt bist du am Feuer, jetzt wärme dich. Aber rede mir kein Wort mehr von meinen Thieren, sonst setzt es künftig Schläge.«

Da schwieg sie still, und wärmte ihre Hände an den aufflackernden Flammen, und murmelte für sich ein Paar Worte über ihr Räthlein. Dann bot sie es Brunnenstark[74] dar, und sprach: »Ich dank' Euch, Herr, daß Ihr die Barmherzigkeit mit mir gehabt habt, und mich wärmen lasset. Ich möcht' Euch auch gar gern einen Gefallen dagegen thun. Da nehmt das Rüthlein, und berührt jeden der vier Steine damit, und Ihr werdet mir's danken, daß ich zu Euch gekommen bin.«

Aber Brunnenstark wollte das Rüthlein nicht annehmen, sondern sprach: »Du bist eine alte Thörin mit deiner Ruthe.« Sie ließ aber nicht ab zu bitten, bis er die Ruthe nahm, und jeden der Steine damit berührte.

Als er aber der Alten die Ruthe wieder gegeben hatte, fühlte er's unter sich regen. Er sprang auf, und siehe, der Stein, darauf er gesessen, dehnte sich, und gestaltete sich, und es ward ein Löwe daraus, gleich dem seinigen. Und jetzt dehnte sich der andere Stein, und es ward ein Bär daraus, welcher dem seinigen gleich. Und jetzt dehnte sich der dritte Stein, und es ward ein Wolf daraus, gleich seinem Wolfe. Und jetzt dehnte sich noch der vierte Stein, darauf die Alte saß. Da machte Brunnenstark sie schnell los und wand ihr die Ketten ab vom Leibe, womit er sie umschlungen. Und sie stand auf. Siehe! da gestaltete sich dieser vierte Stein nach und nach zur menschlichen Gestalt, und es ward ein Mensch, der sich aufrichtete und die Augen ausrieb, als stünd' er vom Schlafe auf. Und da Brunnenstark ihn ansah, erkannte[75] er ihn, und fiel ihm in die Arme, um den Hals, und bewillkommte ihn, und rief: »Brunnenhold, lieber Bruder, wie kommst du hierher?« Aber Brunnenhold sagte: »Brunnenstark, lieber Bruder, wie kommst du hierher, und triffst mich schlafend? Ich bin eben ein wenig eingeschlummert. Sieh da bratet mein Hase noch, der muß jetzt fertig sein, den sollst du nun mit mir essen. Dann gehn wir sogleich mit Sonnenaufgang in mein Schloß zurück.« Und er erzählte ihm Alles, wie er eines Königs Eidam worden sei, und eine schöne tugendsame Gemahlin besitze, die Helgrita genannt sei.

Darob erstaunte Brunnenstark, und erzählte ihm, wie er nicht geschlafen habe, sondern ein Stein gewesen sei, sammt seinen Thieren. Aber Brunnenhold wollte es nicht glauben, und sprach: »Siehe, da steht die Alte ja noch, die sich bei meinem Feuer wärmen wollte, und das Feuer brennt ja noch, und mein Hase ist noch nicht einmal gar gebraten.«

Da fiel aber die Alte nieder vor ihnen auf ihre Kniee, und gestand, wie sie Brunnenhold und seine Thiere verzaubert habe in Stein, und wie sie es habe thun müssen, weil er sich zu sanft gegen sie gezeigt, und sie nicht strenge von sich gewiesen habe. Und dann wandte sie sich an Brunnenstark, und bat ihn, er möge ihr jetzt doch einen Gefallen thun,[76] der werde ihn nicht reuen. Brunnenstark aber sagte: »Wenn's etwas ist, so in meinen Kräften steht, so verspreche ich dir zu thun, was du verlangen magst.«

Aber die Alte streichelte ihm mit ihren dürren Händen die Wangen, und sagte: »Komm, Lieber, zieh Dein Waidmesser, und schlag mir damit den Kopf ab, und laß ihn im Feuer ganz zu Asche verglimmen. Dann nimm von der warmen Asche, und stell Dich gegen Morgen mit Deinem Antlitz, und wirf dreimal eine Hand voll über Dein Haupt weg gegen Abend, und Du wirst Dein Wunder sehen, was für ein gut Werk Du Dir und mir gestiftet hast.«

Aber Brunnenstark wandte sich von ihr, und sprach: »Gehe hin, ich kann nicht thun was du begehret; denn es ist Unrecht, Menschenblut zu vergießen.« Sie ließ aber nicht ab, zu bitten, und sagte, er thue nicht Sünde, wenn er ihr das Haupt abschlage, denn sie sterbe doch nicht, wenn er gleich ihr Blut vergieße; und drang so lange in ihn, bis er ihr versprach zu thun nach ihrem Begehren.

Und er ließ sie niederknieen, und schlug ihr das Haupt ab, und warf es in das Feuer. Aber ihr Leib versank alsbald unter die Erde und wuchs grüner Rasen drüber hin, wie zuvor. Brunnenstark setzte sich aber jetzt mit Brunnenhold nieder, und verzehrte mit ihm seinen Hasen, und redeten mit einander von ihren Thaten und Schicksalen, und[77] sprachen mitunter auch von ihrer Mutter, wie sie seitdem gar nichts mehr vor ihr vernommen, seit sie bei dem alten Waidmann, ihrem Lehrherrn, gewesen.

Als aber jetzt das Feuer erloschen, und das Haupt der Alten ganz zu Asche verglommen war, stellte sich Brunnenhold mit dem Antlitz gegen Morgen, und fassete eine Hand voll Asche, und warf dieselbe über sein Haupt weg gegen Abend. Darauf fassete er noch eine Hand voll, und that mit ihr, wie mit der ersten. Und so auch mit der dritten Hand voll Asche.

Doch er hatte kaum die dritte Hand voll geworfen, so that es drei gewaltige Donnerschläge, und der Boden erbebte, als hätte sich die Erde hinter ihm gespalten. Und als er und Brunnenhold umschauten, siehe! so war der Wald gegen Abend hin verschwunden, und es stand dort ein prachtvolles Schloß, daran alle Fenster von den Lichtern innen erleuchtet waren. Und als sie umher sahen, standen sie im Garten des prächtigen Schlosses, und sahen zunächst am Schlosse, als sie näher hinzutraten, einen schönen spiegelglatten See, darauf zahme Schwäne hin und her schwammen. Aber aus den mittelsten Fenstern des Schlosses tönte ein festlicher Reigen herunter.

Da beschlossen Brunnenstark und Brunnenhold hinauf zu gehn, und Theil zu nehmen an dem Feste bis an den Morgen.[78] Als sie aber in die Gänge eintraten, erstaunten sie über die Pracht, die ihnen allenthalben entgegen leuchtete. Und als sie die Marmorstufen hinaufstiegen, kam ihnen eine königlich geschmückte Jungfrau entgegen, und hinter ihr viele reichgekleidete Frauen und Herren. Aber die Jungfrau warf sich vor Allen in Brunnenstarks Arme, und sagte: »Sehet, der ist mein Retter, der mich von der Verzauberung erlöset, in der ich schon tausend Jahre gebannt lag. Darum ist es billig, daß ich ihm alles zu eigen gebe, was ich besitze. Er soll mein Gemahl werden, und fortan bei mir wohnen, und mein Land beherrschen, als sein Eigenthum.« Darauf wandte sie sich zu Brunnenstark, und sprach: »Dafern Ihr anders wollt, so kommt, und laßt uns alsogleich den Brauttanz halten.«

Da eilte Brunnenstark mit ihr alsobald in den festlich erleuchteten Tanzsaal, und tanzeten voraus, und ihnen nach tanzeten hundert Paare Frauen und Ritter, und hatten alle Raum, so groß war der prächtige Tanzsaal.

Indessen liefen aber die Diener, und bestellten die köstliche Tafel im Nebensaale, und riefen sich's durch die Gänge nach, Einer dem Andern, und fragten sich: »Weißt du, was es gibt? der Prinzessin Bräutigam ist kommen, und halten eben den Brauttanz zusammen im Saale.«

Als aber der Tanz jetzt geendet war, traten alle in den[79] Speisesaal, und hielten daselbst ein prächtiges Mahl. Aber Brunnenstark und Albruna, die Prinzessin saßen oben an, an der Tafel auf Purpurkissen mit Gold durchwirkt, und neben ihnen saß Brunnenhold. Da fragte die Prinzessin Braut mit Holdseligkeit ihren Bräutigam: »Als ich an meinem Stabe zu Euch trat, und Euch mit den dürren Fingern die Backen streichelte, da hättet Ihr wohl nicht mit mir getanzt im Walde? Seht, daß Ihr mir und Euch ein gut Werk gestiftet habt, daß Ihr mir den alten Wackelkopf abschluget mit Euerm Waidmesser. Denn ich war jenes alte Mütterlein. Gelt, mein neuer Kopf gefällt Euch doch besser, als der alte Euch gefiel.«

So scherzte sie viel, und Brunnenstark und Brunnenhold scherzeten mit ihr über ihr hohes Alter von tausend Jahren und ihre jugendliche Gestalt, als die einer sechzehnjährigen Jungfrau, und waren sehr vergnügt zusammen. Da trat auf einmal ein Diener herein, und erzählte, wie eben durch die Luft ein Drachenschiff gekommen, und sich im Garten des Schlosses niedergelassen habe. Da eilten Brunnenstark und Brunnenhold an's Fenster, und erkannten das Drachenschiff, und sahen zwei Frauen aus demselben aussteigen. Da eilten sie alsbald die Stufen hinab, und führten die Frauen herauf mit Freudengeschrei. Denn es war ihre Mutter Armina, die gekommen war mit ihrer Amme.

Und jetzt war Freude und Jubel an allen Enden.[80]

Des Morgens darauf machte sich aber Brunnenhold sogleich auf mit seinen Thieren, und setzte sich in das Drachenschiff seiner Mutter, und wünschte sich von dannen, seine betrübte Gemahlin zu trösten. Da ließ sich das Schiff nieder in dem Garten seines Schlosses. Und als er in den Schloßhof trat, saß Helgrita, seine Gemahlin, eben im Erker ihres Gemaches und weinte wieder um ihren verlorenen Gemahl. Als sie ihn aber ersah, und an seinen Thieren zuerst erkannte, wollte sie ihren Augen nicht trauen. Aber er eilte hinauf zu ihr, und bewillkommte sie, und ihre Trauerthränen wurden zu Freudenthränen.

Und das Volk drängte sich nach in den Schloßhof, und verlangte ihn zu sehen. Denn die Mähre von seiner Ankunft hatte sich schnell durch die Stadt verbreitet. Und als er hinaustrat auf die Stufen des Schlosses, scholl ihm ein tausendstimmiges Freudengeschrei entgegen. Und die Aeltesten kamen, und huldigten ihm. Denn der alte König, der Vater seiner Gemahlin war seitdem gestorben.

Darauf zog er mit seiner Gemahlin auf etliche Tage hinüber zu Brunnenstark, und stellte sie seiner Mutter Armina vor. Diese ließ aber auch vor sich treten Albruna, ihres Brunnenstarks Gemahlin, und legte beiden die Hände auf's Haupt, und küssete beiden die Stirne, und gab ihnen ihren mütterlichen Segen.[81]

Dann wurden Feste gefeiert an beiden Hofhaltungen bei Brunnenstark und bei Brunnenhold, immer eins köstlicher und prachtvoller, als das andere. Und darauf zog jeder nach seinem Schlosse, und lebten beide glücklich und vergnügt, und beherrschten ihre Länder mit Milde, und machten ihre Unterthanen glücklich. Aber Armina, ihre Mutter lebte fortan bei ihnen, bald bei Brunnenhold, bald bei Brunnenstark.

Noch lange nach ihrem Leben wurden ihre Länder von milden weisen Königen regiert, die ihre Ur-ur-Enkel waren. Aber wenn man in späten Zeiten den jüngsten Enkel ihrer Unterthanen noch den Namen Brunnenhold oder Brunnenstark nannte, so glänzten ihre Augen froher, und jedes Kind wußte die wundervolle Mähre von ihrem Leben zu sagen.

Jetzt weiß man nicht mehr, wo die Länder lagen, darin sie ehemals geherrscht. Vielleicht sind sie im Meere versunken. Denn ein alter Steuermann sagte, ihm hätten die Meerweiblein in einer Nacht, da er am Steuerruder eines Meerschiffes gestanden, das Lied von Brunnenhold und Brunnenstark gesungen. Und derselbige Steuermann hat auch die Geschichte weit über's Meer her zu uns gebracht.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Lina’s Mährchenbuch 1–2. Band 2, Grimma 21837, S. 68-82.
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