II.

[85] An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch vor dem Fenster, da kam eine Bauersfrau der Straße daher und rief: »gut Mus feil! gut Mus feil!« – da streckte das Schneiderlein seinen Kopf zum Fenster hinaus und rief: »Hier herauf, liebe Frau, ihr macht einen guten Kauf.« Als die Frau hinauf kam, besah es alle Töpfe, zuletzt kauft es sich ein Viertelpfund. Darnach schnitt es ein Stück Brot über den ganzen Laib, schmierte das Mus darauf, legte es neben sich auf den Tisch und gedacht, du wirst gut schmecken, aber erst will ich das eine Camisol fertig machen, eh ich dich esse; fing an zu nähen und machte große Stiche vor Freuden. Indeß ging der Geruch von dem Mus auf und zu den Fliegen, da kamen sie in Menge und setzten sich auf sein Musbrot »Wer hat euch zu Gast gebeten,« sagte es und jagte sie fort; es dauerte aber nicht lange, so kamen sie von neuem und ließen sich noch zahlreicher auf das Musbrot nieder. Mein Schneiderlein[85] ward bös, ergriff einen großen Tuchlappen und: »euch will ichs geben« schlug es drauf. Darnach zog es ab und zählte, wie viel es getroffen, da lagen neun und zwanzig todt vor ihm. »Bist du so ein Kerl!« sprach es und verwundert sich über sich selbst und in der Freude seines Herzens nähte es sich einen Gürtel und stickte darauf: 29 auf einen Streich! »Du mußt in die Welt hinein!« dacht das Schneiderlein, band sich den Gürtel um den Leib und sucht' im Haus, ob nichts da wär zum mitnehmen, da fand es einen alten Käs, den steckt' es in die Tasche, unterwegs fing es einen Vogel, der mußte auch hinein. Das Schneiderlein stieg auf einen hohen Berg, wie es oben hin kam, saß da auf der Spitze ein großer Riese, zu dem sprach es: »Cammerad, wie gehts, ihr seht euch wohl hier oben in der Welt um, ich will mich auch hinein begeben.« Der Riese aber blickte ihn verächtlich an und sprach: »du bist ein miserabeler Kerl.« Das Schneiderlein knöpfte seinen Rock auf, zeigte dem Riesen den Gürtel: »da kannst du sehen, was du für einen Mann vor dir hast.« Der Riese las die Worte: 29 auf einen Streich! und weil er meinte 29 Menschen auf einen Streich erschlagen, fing er an Respect vor dem Schneiderlein zu kriegen, doch wollt er es erst prüfen. Da nahm er einen Stein und drückte ihn so stark, daß das[86] Wasser herauslief: »so stark bist du doch nicht.« – »Wenns weiter nichts ist, sagte das Schneiderlein, das kann ich auch.« Darauf griff es in die Tasche, holte den faulen Käs und drückte ihn, daß der Saft heraus lief: »gelt! das war noch besser.« Der Riese verwunderte sich, nahm einen Stein und warf ihn so hoch, daß man ihn kaum mehr sehen konnte: »das mach mir nach.« – »Der Wurf war gut, sagte das Schneiderlein, doch hat dein Stein wieder zur Erde fallen müssen, ich aber will dir einen werfen, der soll gar nicht wiederkommen.« Da nahm es den Vogel aus der Tasche und warf ihn in die Luft und der Vogel flog ganz fort: »wie gefällt dir das!« der Riese erstaunte, schlug sich zu ihm und sie gingen zusammen weiter. Da kamen sie an einen Kirschbaum, der Riese nahm die Krone und bog sie herunter und gab sie dem Schneiderlein, daß es auch davon essen könnte. Das Schneiderlein aber war zu schwach und konnte der Stärke des Baums nicht widerstehen und ward mit in die Höhe geschnellt. »Was ist das, sagte der Riese, hast du die schwache Gerte nicht halten können!« – »Das ist ja nichts, antwortete das Schneiderlein dazu, für einen der 29 auf einen Streich getroffen hat: weißt du, warum ich es gethan habe? da unten da schießen die Jäger in das Gebüsch, da bin ich flugs über den Baum hinüber gesprungen,[87] das thust du mir nicht nach.« Der Riese glaubte nun es überträf niemand auf der Welt das Schneiderlein an Stärke und Klugheit.


(Das weitere fehlt.)

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. 2 Bände, Band 1, Berlin 1812/15, S. 85-88.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kinder- und Hausmärchen (1812-15)
Kinder- und Hausmärchen, Band 1
Kinder- und Hausmärchen: Die handschriftliche Urfassung von 1810
Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Gesamtausgabe in 3 Bänden mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm.
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm