104. Der quillende Brunnen

[137] An einem Berge in Franken quillet ein Brunnen, wobei ein vornehmes adliges Geschlecht sein Stammhaus hat. Das ganze Jahr über hat er schönes, lauteres, überflüssiges Wasser, das nicht eher aufhöret, als wenn jemand aus demselbigen Geschlecht soll sterben. Alsdann vertrocknet er sogar, daß man auch fast kein Zeichen oder Spur mehr findet, es sei jemals ein Brunn daselbst gewesen. Als zur Zeit ein alter Herr des gedachten adligen Stammes in fremden Landen tödlich niederlag und, bereits achtzigjährig, seinen baldigen Tod mutmaßte, fertigte er in[137] seine Heimat einen Boten ab, der sich erkundigen sollte, ob der Brunn vertrockne. Bei der Ankunft des Boten war das Wasser versiegt, allein man gebot ihm ernstlich, es dem alten Herrn zu verschweigen, vielmehr zu sagen: der Brunn befinde sich noch richtig und voll Wassers; damit ihm keine traurigen Gedanken erweckt würden. Da lachte der Alte und strafte sich selbst, daß er von dem Brunnen abergläubisch zu wissen gesuchet, was im Wohlgefallen Gottes stände, schickte sich zu einem seligen Abschied an. Plötzlich aber wurde es besser mit seiner Krankheit, und nicht lange, so kam er dieses Lagers völlig wieder auf. Damit der Brunnen nicht vergebens versiegte und ihm seine seit langen Jahren eingetroffene Bedeutung bestünde, trug es sich zu, daß des Geschlechts ein Junger von Adel, von einem untreuen Pferde abgeworfen, gleich zu der nämlichen Zeit Todes verfuhr.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 137-138.
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