124. Taube zeigt einen Schatz

[154] Als Herzog Heinrich von Breslau die Stadt Krakau erobert hatte, ging er in das Münster daselbst, kniete als ein frommer Mann vor dem Altar Unserer Frauen nieder und dankte ihr, daß sie ihm Gnade erzeigt und sein Leid in Freud gewendet hätte. Und als er aufgestanden war, erblickte er eine Taube, sah ihrem Fluge nach und bemerkte, wie sie sich über einem Pfeiler auf das Gesims eines Bogens setzte. Dann nahm er wahr, wie sie mit dem Schnabel in die Mauer pickte und mit den Füßen Mörtel und Stein hinter sich schob. Bald darauf lag[154] unten ein Goldstück, das herabgefallen war. Der Herzog nahm es auf und sprach: »Das hat die Taube herausgestochen, des sollte leicht noch mehr da sein.« Alsbald ließ er eine Leiter holen und schickte nach einem Maurer, der sollt sehen, was sich oben fände. Der Maurer stieg hinauf, nahm den Meißel in die Hand, und bei dem ersten Schlag in die Wand entdeckte er, daß da ein großer Schatz von Gold lag. Da rief er: »Herr, gebt mir einen guten Lohn, hier liegt des glänzenden Goldes unmaßen viel.« Der Herzog ließ die Mauer aufbrechen und den Hort herabnehmen, den Gott ihm gab. Als man es wog, waren es fünfzigtausend Mark.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 154-155.
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