239. Das taube Korn

[243] Zu Stavoren in Friesland waren die Einwohner durch ihren Reichtum stolz und übermütig geworden, daß sie Hausflur und Türen mit Gold beschlagen ließen, den ärmeren Städten der Nachbarschaft zum Trotz. Von diesen wurden sie daher nicht anders genannt als »die verwöhnten Kinder von Stavoren«. Unter ihnen war besonders eine alte geizhalsige Witwe, die trug einem Danzigfahrer auf, das Beste, was er laden könne, für ihre Rechnung mitzubringen. Der Schiffer wußte nichts Bessers, als er nahm einige tausend Lasten schönes polnisch Getreid, denn zur Zeit der Abreise hatte die Frucht gar hoch gestanden in Friesland. Unterwegs aber begegnete ihm nichts wie Sturm und Unwetter und nötigten ihn zu Bornholm überwintern, dergestalt, daß, wie er frühjahrs endlich daheim anlangte, das Korn gänzlich im Preise gefallen war und die Witwe zornig die sämtliche Ladung vor der Stadt in die See werfen ließ. Was geschah? An derselben Stelle tat sich seit der Zeit eine mächtige Sandbank empor, geheißen der Frauensand, darauf nichts als taubes Korn (Wunderkorn, Dünenhelm, weil es die Dünen wider die See helmt [schützt], arundo arenaria) wuchs, und die Sandbank lag vor dem Hafen, den sie sperrte, und der ganze Hafen ging zugrunde. So wuchs an der Sünde der alten Frau die Buße für die ganze Stadt auf.[243]

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 243-244.
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