318. Die Heidenjungfrau zu Glatz

[301] Alte und junge Leute zu Glatz erzählten: In der heidnischen Zeit habe da eine gottlose, zauberhafte Jungfrau das Land beherrscht, die mit ihrem Ranzenbogen vom Schloß herab bis zur großen Eisersdorfer Linde geschossen, als sie mit ihrem Bruder gewettet, wer den Pfeil am weitesten schießen könnte. Des Bruders Pfeil reichte kaum auf den halben Weg, und die Jungfrau gewann. An dieser Linde stehet die Grenze, und sie soll so alt sein wie der Heidenturm zu Glatz, und wenn sie gleich ein Mal oder das ander verdorret, so ist sie doch immer ausgewachsen und stehet noch. Auf der Linde saß einmal die Wahrsagerin und[301] weissagte von der Stadt viel zukünftige Dinge: Der Türk werde bis nach Glatz dringen, aber wenn er über die steinerne Brücke auf den Ring einziehe, eine schwere Niederlage erleiden durch die vom Schloß herab auf ihn ziehenden Christen; solches werde aber nicht geschehen, bevor ein Haufen Kraniche durch die Brotbänke geflogen. – Zum Zeichen, daß die Jungfrau ihren Bruder mit dem Bogen überschossen, setzte man auf der Meile hinter dem Graben zween spitzige Steine. Weil sie aber mit ihrem eigenen Bruder unerlaubte Liebe gepflogen, war sie vom Volke verabscheut, und es wurde ihr nach dem Leben getrachtet, allein sie wußte durch ihre Zauberkunst und Stärke, da sie oftmals aus Kurzweil ein ganzes Hufeisen zerriß, stets zu entrinnen. Zuletzt jedoch blieb sie gefangen und in einem großen Saal, welcher bei dem Tor, dadurch man aus dem Niederschloß ins Oberschloß gehet, vermauert. Da kam sie ums Leben, und zum Andenken stehet ihr Bildnis links desselben Tors an der Mauer über den tiefen Graben in Stein ausgehauen und wird bis auf den heutigen Tag allen fremden Leuten gezeigt. Außerdem hing ihr Gemälde im grünen Schloßsaal und in der Schloßkirche an einem eisernen Nagel in der Wand schön gelbes Haar, etlichemal aufgeflochten nach der Länge. Die Leute nennen es allgemein das Haar der Heidenjungfrau; es hanget so hoch, daß es ein großer Mann auf der Erde stehend mit der Hand erreichen kann, ungefähr drei Schritt von der Türe weit. Sie soll in der Gestalt und Kleidung, wie sie abgemalet wird, öfters im Schlosse erscheinen, beleidigt doch niemanden, außer wer sie höhnt und spottet oder ihre Haarflechte aus der Kirche wegzunehmen gedenkt. Zu einem Soldat, der sie verspottet, kam sie auf die Schildwache und gab ihm mit kalter Hand einen Backenstreich. Einem andern, der das Haar entwendet, erschien sie nachts, kratzte und krengelte ihn bis nahe an den Tod, wenn er nicht schnell durch seinen Rottgesellen das Haar wieder an den alten Ort hätte tragen lassen.[302]

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 301-303.
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