324. Das Ilefelder Nadelöhr

[309] Bei dem Kloster Ilefeld, zur linken Hand gleich bei dem Harzfahrwege, steht aus einem hohen Berg ein starker Stein hervor, der in seiner Mitte eine enge und schmale durchgehende Höhle hat. Alle Knechte aus Nordhausen und den umliegenden Örtern, wann sie das erstemal in den Harzwald hinter Ilefeld nach Brennholz fahren, müssen durch dieses Nadelöhr dreimal kriechen, mit großer Müh und Beschwerde, und werden beim Ein- und Auskriechen von ihren Kameraden dazu mit Peitschenstielen tapfer abgeschlagen. Wollen sie die Kurzweil nicht ausstehen, so müssen sie sich mit Gelde loskaufen. Die Obrigkeit hat diese Sitte schon mehrmals bei ziemlicher Strafe, aber fruchtlos verboten, und der Knecht, der sich dem Brauch entziehen will, hat vor seinen Kameraden keinen Frieden und wird nicht bei ihnen gelitten. Vom Ursprung dieses Steins gibt der gemeine Mann vor: Ein Hüne sei einstmals etliche Meilen Wegs gereist; als er nun hinter Ilefeld gekommen, habe er gefühlt, daß ihn etwas in dem einen Schuh drücke, ihn also ausgezogen und diesen Stein drin gefunden. Darauf habe er den Stein an den Ort, wo er noch liege, geworfen.[309]

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 309-310.
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