82. Der Wechselbalg

[118] Zu Heßloch, bei Odernheim im Gau gelegen, hat sich's zugetragen, daß der Kellner eines geistlichen Herrn mit der Köchin wie seiner Ehefrau gelebt, nur daß er sich nicht durfte öffentlich einsegnen lassen. Sie zeugten ein Kind miteinander, aber das wollte nicht wachsen und zunehmen, sondern es schrie Tag und Nacht und verlangte immer zu essen. Endlich hat sich die Frau beraten und wollte es gen Neuhausen auf die Cyriakswiese tragen und wiegen lassen und aus dem Cyriaksbrunnen ihm zu trinken geben, so möchte es besser mit ihm werden. Denn es war damals Glauben, ein Kind müsse dann nach neun Tagen sich zum Leben oder Tod verändern1. Wie nun die Frau bei Westhofen in den Klauer kommt mit dem Kinde auf dem Rücken, welches ihr so schwer geworden, daß sie keucht und der Schweiß ihr übers Angesicht läuft, begegnet ihr ein fahrender Schüler, der redet sie an: »Ei Frau, was tragt Ihr da für ein wüstes Geschöpf, es wäre kein Wunder, wenn es Euch den Hals eindrückte.« Sie antwortete, es wäre ihr liebes Kind, das wollte nicht gedeihen und zunehmen, daher es zu Neuhausen sollte gewogen werden. Er aber sprach: »Das ist nicht Euer Kind, es ist der Teufel2, werft ihn in den Bach!« Als sie aber nicht wollte, sondern beharrte, es wäre ihr Kind, und es küßte, sprach er weiter: »Euer Kind stehet daheim in der Stubenkammer hinter der Arke in einer neuen Wiege, werfet diesen Unhold in den Bach!« da hat sie es mit Weinen und Jammern getan. Alsobald ist ein Geheul und Gemurmel unter der Brücke, auf der sie stand, gehört worden, gleichwie von Wölfen und Bären. Und als die Mutter heimgekommen, hat sie ihr Kindlein frisch und gesund und lachend in einer neuen Wiege gefunden.[118]

Fußnoten

1 Ein Wechselbalg wird gewöhnlich nicht älter als sieben Jahre; nach andern jedoch sollen sie achtzehn bis neunzehn Jahre leben.


2 Denn der Teufel nimmt die rechten Kinder aus der Wiege, führt sie fort und legt seine dafür hinein. Daher der Name Wechselbalg.


Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 118-119.
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