447. Der eiserne Karl

[415] Zur Zeit, als König Karl den Lombardenkönig Desiderius befeindete, lebte an des letztern Hofe Ogger (Odger, Autchar), ein edler Franke, der vor Karls Ungnade das Land hatte räumen müssen. Wie nun die Nachricht erscholl, Karl rücke mit Heeresmacht heran, standen Desiderius und Ogger auf einem hohen Turm, von dessen Gipfel man weit und breit in das Reich schauen konnte. Das Gepäck rückte in Haufen an. »Ist Karl unter diesem großen Heer?« frug König Desiderius. »Noch nicht!« versetzte Ogger. Nun kam der Landsturm des ganzen fränkischen Reichs. »Hierunter befindet sich Karl aber gewiß«, sagte Desiderius bestimmt. Ogger antwortete: »Noch nicht, noch nicht.« Da tobte der König und sagte: »Was sollen wir anfangen, wenn noch mehrere mit ihm kommen?« – »Wie er kommen wird«, antwortete jener, »sollst du gewahr werden; was mit uns geschehe, weiß ich nicht.« Unter diesen Reden zeigte sich ein neuer Troß. Erstaunt sagte Desiderius: »Darunter ist doch Karl?« – »Immer noch nicht«, sprach Ogger. Nächstdem erblickte man Bischöfe, Äbte, Kapellane mit ihrer Geistlichkeit. Außer sich stöhnte Desiderius: »O laß uns niedersteigen und uns bergen in der Erde vor dem Angesichte dieses grausamen Feindes.« Da erinnerte sich Ogger der herrlichen, unvergleichlichen Macht des Königs Karl aus bessern Zeiten her und brach in die Worte aus: »Wenn du die Saat auf den Feldern wirst starren sehen, den eisernen Po und Tissino mit dunkeln, eisenschwarzen Meereswellen die Stadtmauern überschwemmen, dann gewarte, daß Karl kommt.« Kaum war dies ausgeredet, als sich im Westen wie eine finstere Wolke zeigte, die den hellen Tag beschattete. Dann sah man den eisernen Karl in einem Eisenhelm, in eisernen Schienen, eisernem Panzer um die breite Brust, eine Eisenstange in der Linken hoch aufreckend. In der Rechten hielt er den Stahl, der Schild war ganz aus Eisen, und auch sein Roß schien eisern an Mut und Farbe. Alle, die ihm vorausgingen,[415] zur Seite waren und ihm nachfolgten, ja, das ganze Heer schien auf gleiche Weise ausgerüstet. Einen schnellen Blick darauf werfend, rief Ogger: »Hier hast du den, nach dem du soviel frugest«, und stürzte halb entseelt zu Boden.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 415-416.
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