543. Loherangrins Ende in Lothringen

[542] Als nun Loherangrin mit Zurücklassung des Schwerts, Hornes und Fingerlins aus Brabant fortgezogen war, kam er in das Land Lyzaborie (Luxemburg) und ward der schönen Belaye Gemahl, die sich wohl vor der Frage nach seiner Herkunft hütete und ihn über die Maßen liebte, so daß sie keine Stunde von ihm sein konnte, ohne zu siechen. Denn sie fürchtete seinen Wankelmut und lag ihm beständig an, zu Haus zu bleiben; der Fürst aber mochte ein so verzagtes Wesen nicht gerne leiden, sondern ritt oft zu birsen auf die Jagd. Solange er abwesend war, saß Belaye halbtot und sprachlos daheim; sie kränkelte, und es schien ihr durch Zauberei etwas angetan. Nun wurde ihr von einem Kammerweib geraten: wolle sie ihn fester an sich bannen, so müsse sie Loherangrin, wann er müde von der Jagd entschlafen sei, ein Stück Fleisch von dem Leibe schneiden und essen.[542] Belaye aber verwarf den Ratschlag und sagte: »Eh wollt ich mich begraben lassen, als daß ihm nur ein Finger schwüre!« zürnte dem Kammerweib und verwies sie seitdem aus ihrer Huld. Giftig ging die Verräterin hin zu Belayens Magen, die dem Helden die Königstochter neideten, und brachte ihnen falsche Lügen vor. Da beriet sich Belayens Sippschaft, daß sie aus Loherangrin das Fleisch, womit allein Belayens Not gelindert werden könnte, schneiden wollten; und als er eines Tages wieder auf die Jagd gegangen und entschlafen war, träumte ihm, tausend Schwerter stünden zumal ob seinem einzigen Haupt gezückt. Erschrocken fuhr er auf und sah die Schwerter der Verräter. Alle bebten vor dem Helden, mit seiner einen Hand erschlug er mehr denn hundert. Sie waren aber untereinander zu fest verbunden und ließen nicht nach, ihn anzugreifen, bis ihm ihrer zuviel wurde und er eine Wunde durch den linken Arm empfing, so schwer, daß sie kein Arzt heilen konnte. Als sie ihn todwund sahen, fielen sie ihm alle zu Füßen, seiner großen Tugend wegen. Belaye starb nach empfangener Todesbotschaft alsbald vor Herzeleid. Loherangrin und Belaye wurden gebalsamt und zusammen eingesargt, hernach ein Kloster über ihren Gräbern gebauet; ihre Leichname werden da den Pilgrimen noch gewiesen. Das Land, vorher Lyzaborie genannt, nahm von ihm den Namen Lotharingen an. Diese Begebenheit hat sich ereignet nach Christi Geburt fünfhundert Jahr.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 542-543.
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