Das siebente Kapitel.

[22] Simplex wird in einer Herberg traktieret,

Obgleich wird sehr großer Mangel gespüret.


Wasgestalten mir wieder zu mir selbst geholfen worden, weiß ich nicht, aber dieses wohl, daß ich aus dem hohlen Baum mich befande, der Alte meinen Kopf in seinem Schoß und vorn meine Juppe geöffnet gehabt. Als ich mich wieder erholete, da ich den Einsiedler so nahe bei mir sahe, fieng ich ein solch grausam Geschrei an, als ob er mir im selben Augenblick das Herz aus dem Leib hätt reißen wollen. Er aber sagte: »Mein Sohn, schweig! ich tue dir nichts! sei zufrieden, etc.« Je mehr er mich aber tröstete und mir liebkoste, je mehr ich schrie: »O du frißt mich! O du frißt mich! du bist der Wolf und willst mich fressen!« – »Ei ja wohl nein, mein Sohn,« sagte er, »sei zufrieden, ich friß dich nicht!« Dies Gefecht und erschröckliches Geheule verführt ich sehr lang, bis ich mich endlich so weit ließ weisen, mit ihm in seine Hütte zu gehen; darin war die Armut selbst Hofmeisterin, der Hunger Koch und der Mangel Küchenmeister. Da wurde mein Magen mit einem Gemüs und Trunk Wassers gelabet, und mein Gemüt, so ganz verwirrt war, durch des Alten tröstliche Freundlichkeit wieder aufgerichtet und zurechtgebracht. Derowegen ließ ich mich durch die Anreizung des süßen Schlafes leicht betören, der Natur solche Schuldigkeit abzulegen. Der Einsiedel merkte meine Notdurft; darum ließ er mir den Platz allein in seiner Hütte, weil nur einer darin liegen konnte. Ungefähr um Mitternacht erwachte ich wieder und hörete ihn folgendes Lied singen, welches ich hernach auch gelernet:


Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall!

Laß deine Stimm mit Freudenschall

Aufs lieblichste erklingen:,:

Komm, komm und lob den Schöpfer dein,

Weil andre Vöglein schlafen sein,

Und nicht mehr mögen singen:

Laß dein Stimmlein

Laut erschallen, dann vor allen

Kannst du loben

Gott im Himmel hoch dort oben.


Obschon ist hin der Sonnenschein,

Und wir im Finstern müssen sein,

So können wir doch singen:,:[22]

Von Gottes Güt und seiner Macht,

Weil uns kann hindern keine Nacht,

Sein Lob zu vollenbringen.

Drum dein Stimmlein

Laß erschallen, dann vor allen

Kannst du loben

Gott im Himmel hoch dort oben.


Echo, der wilde Widerhall,

Will sein bei diesem Freudenschall,

Und lässet sich auch hören:,:

Verweist uns alle Müdigkeit,

Der wir ergeben allezeit,

Lehrt uns den Schlaf betören.

Drum dein Stimmlein

Laß erschallen, dann vor allen

Kannst du loben

Gott im Himmel hoch dort oben.


Die Sterne, so am Himmel stehn,

Sich lassen zum Lob Gottes sehn,

Und Ehre ihm beweisen:,:

Die Eul auch, die nicht singen kann,

Zeigt doch mit ihrem Heulen an,

Daß sie Gott auch tu preisen.

Drum dein Stimmlein

Laß erschallen, dann vor allen

Kannst du loben

Gott im Himmel hoch dort oben.


Nur her, mein liebstes Vögelein,

Wir wollen nicht die fäulste sein,

Und schlafend liegen bleiben:,:

Vielmehr bis daß die Morgenröt

Erfreuet diese Wälder öd,

In Gottes Lob vertreiben.

Laß dein Stimmlein

Laut erschallen, dann vor allen

Kannst du loben

Gott im Himmel hoch dort oben.


Unter währendem diesem Gesang bedunkt mich wahrhaftig, als wann die Nachtigall sowohl, als die Eule und Echo mit eingestimmet hätten, und wann ich den Morgenstern jemals gehöret oder dessen Melodei auf meiner Sackpfeife aufzumachen vermöcht,[23] so wäre ich aus der Hütte gewischt, meine Karte mit einzuwerfen, weil mich diese Harmonia so lieblich zu sein bedunkte; aber ich entschlief und erwachte nicht wieder bis wohl in den Tag hinein, da der Einsiedel vor mir stund und sagte: »Auf, Kleiner, ich will dir Essen geben, und alsdann den Weg durch den Wald weisen, damit du wieder zu den Leuten und noch vor Nacht in das näheste Dorf kommest!« Ich fragte ihn: »Was sind das für Dinger, Leuten und Dorf?« Er sagte: »Bist du dann niemalen in keinem Dorf gewesen und weißt auch nicht, was Leute oder Menschen seind?« – »Nein,« sagte ich, »nirgends als hier bin ich gewesen. Aber sage mir doch, was seind Leute, Menschen und Dorf?« – »Behüte Gott!« antwortete der Einsiedel, »bist du närrisch oder gescheid?« – »Nein!« sagt ich, »meiner Meuder und meines Knäns Bub bin ich, und nicht der Närrisch oder der Gescheid.« Der Einsiedel verwunderte sich mit Seufzen und Bekreuzigung und sagte: »Wohl, liebes Kind, ich bin gehalten, dich um Gottes willen besser zu unterrichten.« Darauf fielen unsere Reden und Gegenreden, wie folgend Kapitel ausweiset.

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 22-24.
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