Das achte Kapitel.

[102] Simplex Diskurs vom Gedächtnus hört an,

Drauf von Vergessung wird Meldung getan.


Am Morgen, als ich erwachte, waren meine beide verkälberte Schlafgesellen schon fort; derowegen stund ich auf und schlich, als der Adjutant die Schlüssel holete, die Stadt zu öffnen, aus dem Haus zu meinem Pfarrer. Demselben erzählte ich alles, wie mirs sowohl im Himmel als in der Hölle ergangen. Und wie er sahe, daß ich mir ein Gewissen machte, weil ich so viel Leute und sonderlich meinen Herrn betröge, wann ich mich närrisch stellete, sagte er: »Hierum darfst du dich nicht bekümmern, die närrische Welt will betrogen sein. Hat man dir deine Witz noch übriggelassen, so gebrauche dich derselben zu deinem Vorteil und danke Gott, daß du überwunden hast, als welche Gabe nicht jedem gegeben wird. Bilde dir ein, als ob du gleich dem Phönix vom Unverstand zum Verstand durchs Feur, und also zu einem neuen menschlichen Leben auch neu geboren worden seist. Doch wisse dabei, daß du noch nicht über den Graben, sondern mit Gefahr deiner Vernunft in diese Narrenkappe geschloffen bist; die Zeiten sein so wunderlich, daß niemand wissen kann, ob du ohn Verlust deines Lebens wieder herauskommest. Man kann geschwind in die Hölle rennen, aber wieder heraus zu entrinnen wirds Schnaufens und Bartwischens brauchen. Du bist bei weitem noch nicht so gewannet, deiner bevorstehenden Gefahr zu entgehen, wie du dir wohl einbilden möchtest; darum wird dir mehr Vorsichtigkeit und Verstand vonnöten sein, als zu der Zeit, da du noch nicht wußtest, was Verstand oder Unverstand war. Befehle deine Sache Gott, bete fleißig, bleib demütig und erwarte in Gedult der künftigen Veränderung.«

Sein Diskurs war vorsätzlich so variabel; dann ich bilde mir ein, er habe mir an der Stirn gelesen, daß ich mich groß zu sein bedünke, weil ich mit so meisterlichem Betrug und seiner Kunst durchgeschloffen. Und ich mutmaßete hingegen aus seinem Angesicht, daß er unwillig und meiner überdrüssig worden, dann seine Mienen gabens; und was hatte er von mir? Derowegen veränderte ich auch meine Reden und wußte ihm großen Dank vor die herrliche Mittel, die er mir zu Erhaltung meines Verstandes mitgeteilet hatte, ja ich tät unmügliche Promessen, alles, wie meine Schuldigkeit erfordere, wieder dankbarlich zu verschulden. Solches kützelte ihn und brachte ihn auch wieder auf eine andere Laune; dann er rühmte gleich darauf seine Arznei trefflich und erzählte mir, daß Simonides Melicus eine[102] Kunst aufgebracht, die Metrodorus Sceptius nicht ohn große Mühe perfektioniert hätte, vermittelst deren er die Menschen lehren können, daß sie alles, was sie einmal gehöret oder gelesen, bei einem Wort nachreden mögen, und solches wäre, sagte er, ohn hauptstärkende Arzneien, deren er mir mitgeteilet, nicht zugangen. »Ja,« gedachte ich, »mein lieber Herr Pfarrer, ich habe in deinen eigenen Büchern bei meinem Einsiedel viel anders gelesen, worin Sceptii Gedächtnuskunst bestehe!« Doch war ich so schlau, daß ich nichts sagte; dann wann ich die Wahrheit bekennen soll, so bin ich, als ich zum Narrn werden sollte, allererst witzig und in meinen Reden behutsamer worden. Er, der Pfarrer, fuhr fort und sagte mir, wie Cyrus einem jeden von seinen 30000 Soldaten mit seinem rechten Namen hätte rufen, Lucius Scipio alle Bürger zu Rom bei den ihrigen nennen und Cyneas, Pyrrhi Gesandter, gleich den andern Tag hernach, als er gen Rom kommen, aller Ratsherren und Edelleute Namen daselbst ordentlich hersagen können. »Mithridates, der König in Ponto und Bithynia«, sagte er, »hatte Völker von 22 Sprachen unter ihm, denen er allen in ihrer Zunge Recht sprechen und mit einem jeden insonderheit, wie Sabell. lib. 10. cap. 9 schreibet, reden konnte. Der gelehrte Griech Charmides sagte einem auswendig, was einer aus den Büchern wissen wollte, die in der ganzen Liberei lagen, wannschon er sie nur einmal überlesen hatte. Lucius Seneca konnte 2000 Namen herwieder sagen, wie sie ihm vorgesprochen worden, und, wie Ravisius meldet, 200 Vers, von 200 Schülern geredet, vom letzten an bis zum ersten hinwiederum erzählen. Esdras, wie Euseb. lib. temp. Fulg. lib. 8. cap. 7 schreibet, konnte die fünf Bücher Mosis auswendig und selbige von Wort zu Wort den Schreibern in die Feder diktieren. Themistokles lernete die persische Sprache in einem Jahr. Crassus konnte in Asia die fünf unterschiedliche Dialectos der griechischen Sprach ausreden und seinen Untergebenen darin Recht sprechen. Julius Cäsar las, diktierte und gab zugleich Audienz. Von Älio Hadriano, Portio Latrone, den Römern und andern will ich nichts melden, sondern nur von dem heiligen Hieronymo sagen, daß er Hebräisch, Chaldäisch, Griechisch, Persisch, Medisch, Arabisch und Lateinisch gekönnt. Der Einsiedel Antonius konnte die ganze Bibel nur vom Hörenlesen auswendig. So schreibet auch Colerus lib. 18. cap. 21 aus Marco Antonio Mureto von einem Korsikaner, welcher 6000 Menschennamen angehöret und dieselbige hernach in richtiger Ordnung schnell herwieder gesagt.«

»Dieses erzähle ich alles darum,« sagte er ferner, »damit[103] du nicht vor unmüglich haltest, daß durch Medizin einem Menschen sein Gedächtnus trefflich gestärket und erhalten werden könne, gleichwie es hingegen auch auf mancherlei Weise geschwächet und gar ausgetilget wird, maßen Plinius lib. 7. cap. 24. schreibet, daß am Menschen nichts so blöd sei als eben das Gedächtnus, und daß sie durch Krankheit, Schrecken, Forcht, Sorge und Bekümmernus entweder ganz verschwinde oder doch einen großen Teil ihrer Kraft verliere.

Von einem Gelehrten zu Athen wird gelesen, daß er alles, was er je studiert gehabt, sogar auch das Abc, vergessen, nachdem ein Stein von oben herab auf ihn gefallen. Ein anderer schosse von einem Turn herunter und wurde dardurch so vergeßlich, daß er seiner Freunde und Nächstverwandten Namen nicht mehr nennen konnte. Ein anderer kam durch eine Krankheit dahin, daß er seines Dieners Namen vergaß; und Messala Corvinus wußte seinen eigenen Namen nicht mehr, der doch vorhin ein gut Gedächtnus gehabt. Schramhans schreibet in fasciculo Historiarum fol. 60. (welches aber so aufschneiderisch klinget, als ob es Plinius selbst geschrieben), daß ein Priester aus seiner eigenen Ader Blut getrunken und dadurch schreiben und lesen vergessen, sonst aber sein Gedächtnus unverruckt behalten; und als er übers Jahr hernach eben an selbigem Ort und damaliger Zeit abermal desselbigen Bluts getrunken, hätte er wieder wie zuvor schreiben und lesen können. Zwar ist es glaublicher, was Joh. Wierus de praestigiis daemon. lib. 3. cap. 18. schreibet, wann man Bärnhirn einfresse, daß man dadurch in solche Phantasei und starke Imagination gerate, als ob man selbst zu einem Bären worden wäre, wie er dann solches mit dem Exempel eines spanischen Edelmanns beweiset, der, nachdem er dessen genossen, in den Wildnussen umgeloffen und sich nicht anders eingebildet, als er sei ein Bär. Lieber Simplici, hätte dein Herr diese Kunst gewüßt, so dörftest du wohl ehender in einen Bären, wie die Kallisto, als in einen Stier, wie Jupiter, verwandelt worden sein.«

Der Pfarrer erzählte mir des Dings noch viel, gab mir wieder etwas von Arznei und instruierte mich wegen meines fernern Verhalts. Damit machte ich mich wieder nach Haus und brachte mehr als 100 Buben mit, die mir nachliefen und abermals alle wie Kälber schrieen; derowegen lief mein Herr, der eben aufgestanden war, ans Fenster, sahe so viel Narren auf einmal und ließe ihm belieben, darüber herzlich zu lachen.[104]

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 102-105.
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