Das neunzehnte Kapitel.

[144] Simplex von den Wiedertäufern erzählet,

Welche in Ungarn zu wohnen erwählet.


Nach meiner Heimkunft hielt ich mich gar eingezogen; meine größeste Freude und Ergötzung war, hinter den Büchern zu sitzen, deren ich mir dann viel beischaffte, die von allerhand Sachen traktierten, sonderlich solche, die eines großen Nachsinnens bedürfen. Das, was die Grammatici und Schulfüchse wissen müßten, war mir bald erleidet, und eben also ward ich der Arithmeticae auch gleich überdrissig; was aber die Musicam anbelanget, hassete ich dieselbe vorlängst wie die Pestilenze, wie ich dann meine Laute zu tausend Stückern schmiß. Die Mathematica und Geometria fand noch Platz bei mir; sobald ich aber von diesen ein wenig zu der Astronomia geleitet ward, gab ich ihnen auch Feierabend und hieng dieser samt der Astrologia eine Zeitlang an, welche mich dann trefflich delektiereten. Endlich kamen sie mir auch falsch und ungewiß vor, also daß ich mich auch nicht länger mit ihnen schleppen mochte, sondern griff nach der »Kunst« Raymundi Lullii, fand aber viel Geschrei und wenig Wolle, und weil ich sie vor eine Topicam hielt, ließ ich sie fahren und machte mich hinter die Cabbalam der Hebräer und Hieroglyphicas der Ägyptier, fand aber die allerletzte und aus allen meinen Künsten und Wissenschaften, daß[144] keine bessere Kunst sei als die Theologia, wann man vermittelst derselbigen Gott liebet und ihm dienet. Nach der Richtschnur derselben erfand ich vor die Menschen eine Art zu leben, die mehr englisch als menschlich sein könnte, wann sich nämlich eine Gesellschaft zusammentäte, beides, von verehlichten und ledigen, so Manns- als Weibspersonen, die auf Manier der Wiedertäufer allein sich beflissen, unter einem verständigen Vorsteher durch ihrer Hände Arbeit ihren leiblichen Unterhalt zu gewinnen und sich die übrige Zeiten mit dem Lob und Dienst Gottes und ihrer Seelen Seligkeit zu bemühen. Dann ich hatte hiebevor in Ungarn auf den wiedertäuferischen Höfen ein solches Leben gesehen, also daß ich, wofern dieselbe gute Leute mit andern falschen und der allgemeinen christlichen Kirchen widerwärtigen ketzerischen Meinung nicht wären verwickelt und vertieft gewesen, ich mich von freien Stücken zu ihnen geschlagen oder wenigst ihr Leben vor das seligste in der ganzen Welt geschätzet hätte, dann sie kamen mir in ihrem Tun und Leben allerdings für, wie Josephus und andere mehr die jüdische Essäer beschrieben. Sie hatten erstlich große Schätze und überflüssige Nahrung, die sie aber keineswegs unnützlich oder liederlich verschwendeten; kein Fluch, Murmelung noch Ungedult ward bei ihnen gespüret, ja man hörete kein unnützes Wort. Da sahe ich die Handwerker in ihren Werkstätten arbeiten, als wann sie es verdingt hätten; ihr Schulmeister unterrichtete die Jugend, als wann sie alle seine leibliche Kinder gewesen wären; nirgends sahe ich Manns- und Weibsbilder untereinander vermischt, sondern an jedem bestimmten Ort auch jedes Geschlecht absonderlich seine obliegende Arbeit verrichten. Ich fand Zimmer, in welchen nur Kindbetterinnen waren, die ohn Obsorge ihrer Männer durch ihre Mitschwestern mit aller notwendigen Pflege samt ihren Kindern reichlich versehen wurden; andere sonderbare Säle hatten nichts anders in sich, als viele Wiegen mit Säuglingen, die von hierzu bestimmten Weibern mit Wischen und Speisen beobachtet wurden, daß sich deren Mütter ferners nicht um sie bekümmern dorften, als wann sie täglich zu dreien gewissen Zeiten kamen, ihnen ihre milchreiche Brüste zu bieten, und dieses Geschäft, den Kindbetterinnen und Kindern abzuwarten, war allein den Witwen anbefohlen. Anderswo sahe ich das weibliche Geschlecht sonst nichts tun als spinnen, also daß man über die hundert Kunkeln oder Spinnrocken in einem Zimmer beieinander antraf. Da war eine eine Wäscherin, die andre eine Bettmacherin, die dritte Viehmagd, die vierte Schüsselwäscherin, die fünfte Kellerin, die sechste hatte das weiße Zeug zu verwalten, und also auch die[145] übrige alle wußte eine jedwedre, was sie tun sollte. Und gleichwie die Ämter unter dem weiblichen Geschlecht ordentlich ausgeteilet waren, also wußte auch unter den Männern und Jünglingen jeder sein Geschäfte auf das rühmlichste und ungezwungenste zu verwalten. Ward einer oder eine krank, so hatte er oder dieselbe einen sonderbaren Krankenwarter oder Warterin, auch beide Teile einen allgemeinen Medicum und Apotheker, wiewohl sie wegen löblicher Diät und guter Ordnung selten erkranken, wie ich dann manchen seinen Mann in hohem gesundem und geruhigem Alter bei ihnen sahe, dergleichen anderswo wenig anzutreffen. Sie hatten ihre gewisse Stunden zum Essen, ihre gewisse Stunden zum Schlafen, aber keine einzige Minute zum Spielen noch Spazieren, außerhalb die Jugend, welche mit ihrem Präzeptor jedesmal nach dem Essen der Gesundheit halber eine Stunde spaziereten, mithin aber beten und geistliche Gesänge singen mußte. Da war kein Zorn, kein Eifer, keine Rachgier, kein Neid, keine Feindschaft, keine Sorge um Zeitliches, keine Hoffart, kein Geiz, keine Spielsucht, keine Tanzbegierde, keine Reue! In Summa, es war durchaus eine solche liebliche Harmonia, die auf nichts anders angestimmt zu sein schien, als das menschliche Geschlecht und das Reich Gottes in aller Ehrbarkeit zu vermehren. Kein Mann sahe sein Weib, als wann er auf die bestimmte Zeit sich mit derselbigen in seiner Schlafkammer befand, in welcher er sein zugerichtes Bette und sonst nichts darbei als sein Nachtgeschirr neben einem Wasserkrug und weißen Handzwell fand, damit er mit gewaschenen Händen beides, schlafen gehen und den Morgen wieder an seine Arbeit aufstehen möchte. Überdas hießen sie all einander Schwestern und Brüder, und war doch eine solche ehrbare Verträulichkeit keine Ursache, unkeusch zu sein. Ein solch edles und seliges Leben, wie diese wiedertäuferische Ketzer führen, hätte ich gern auch aufgebracht; dann soviel mich dünkte, so übertraf es auch das klösterliche. Ich gedachte: »Könntest du ein solches ehrbares christliches Tun aufbringen unter dem Schutz deiner Obrigkeit, so wärest du ein ander Dominikus oder Franziskus! Ach,« sagte ich oft, »könntest du doch die Wiedertäufer bekehren, daß sie unsere Glaubensgenossen ihre Manier zu leben lerneten, wie wärest du doch so ein seliger Mensch! Oder wann du nur deine Mitchristen bereden könntest, daß sie wie diese Wiedertäufer ein solches, dem Schein nach, christliches und ehrbares Leben führeten, was hättest du nicht ausgerichtet?« Ich sagte zwar zu mir selber: »Narr, was gehen dich andere Leute an? Werde ein Kapuziner! Dir sind ohndas alle Weibsbilder erleidet!« Aber bald gedachte ich: »Du[146] bist morgen nicht wie heut, und wer weiß, was du künftig vor Mittel bedörftig, den Weg Christi recht zu gehen? Heut bist du geneigt zur Keuschheit, morgen aber kannst du brennen.«

Mit solchen und dergleichen Gedanken gieng ich lang um und hätte gern so einer vereinigten christlichen Gesellschaft meinen Hof und ganzes Vermögen zum besten gegeben, unter derselben ein Mitglied zu sein. Aber mein Knän prophezeite mir stracks, daß ich wohl nimmermehr solche Bursche zusammenbringen würde.

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 144-147.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch
Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch: Roman
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch