5.

Tu extraxiste me de Ventre Matris meæ!

[78] 1.

Schöpffer dessen Wunder Güte/

Mich/ da ich nicht war/ gemacht/

Dessen ewig-treu Gemüte

Mich ans Licht der Welt gebracht

Der du mein erneutes Leben

Mir die Nacht wilst wieder geben.


2.

Für dir beug ich Knie vnd Hertze

Für dich stellt sich Seel vnd Geist

Die nach überhaufftem Schmertze

Doch dein Allmacht leben heist

Die längst Noth vnd Tod verschlungen/

Wenn du mir nicht bey gesprungen.


3.

Dem ich nimmermehr kan dancken!

Weil dein Arm mich mehr erhöht;[78]

Als in diesem Lebens-Schrancken

Der bestürtzte Sinn versteht/

Herr: daß ich noch hier mag bleiben!

Ist dir einig zuzuschreiben.


4.

Viel! das nicht entstelte Glieder/

Die geschickte Seel beschwer't

Mehr/ daß mich/ was dir zu wieder

Nicht mit falschem Tandt verkehrt:

Mehr/ das/ als ich kaum geboren

Schon zu deinem Kind erkohren.


5.

Du hast meine Sünden-Flecken/

Durch das Tauffbaad abgefegt:

Daß mich Hell' vnd Feind nicht schrecken:

Hast du rings-vmb mich gelegt

Tausend Geister/ die mich leiten/

Daß mein Fuß nicht feil kan schreiten.


6.

Du hast mir bißher gegeben

Mehr/ als ie mein Hertz begehrt/

Du hast Mittel wol zu leben

Wenn kein Mittel war/ beschert:

Du wirst auff mein sehnlich klagen

Mir auch keinen Trost abschlagen.


7.

Vnerschöpffte Macht/ erscheine

Vnd vollzeuch was du beginnt.

Daß ich dich/ vnd sonst nichts meine

Eh deß Lebens Zeit zerrinnt;[79]

Daß ich nach nichts/ als dir frage

Biß ans ende meiner Tage.


8.

Halleluja! Tod entweiche!

Ich poch' aller Grüffte Recht.

Gott wil nicht/ daß ich erbleiche!

Gott heist leben seinen Knecht.

Daß er Gottes wunder Sachen:

Allen möge kündig machen.

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1, Tübingen 1963, S. 78-80.
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